Achtsame Wertschätzung
Was lässt sich über Wertschätzung und Selbstwert aus Sicht der Achtsamkeit sagen? Tatsächlich lassen sich aus einer achtsamen Betrachtung des Themas interessante, alltagstaugliche Einsichten ableiten. Das möchte ich hier zeigen. Auf den ersten Blick stellt man allerdings überrascht fest, dass Wertschätzung und Selbstwert für das Leben oder für die Achtsamkeit vielleicht nicht wirklich relevant sind. Gemäß der Achtsamkeit ist doch einfach alles nur so, wie es ist! Nichts hat, so gesehen, eine besondere Bedeutung oder gar einen bestimmten Stellenwert oder Rang. Unsere Gewohnheit, den Dingen oder Personen einen Wert zuzuweisen ist insofern schwerlich mit Achtsamkeit vereinbar. Zur Achtsamkeit gehört indes auch, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu achten. Im Zusammenhang mit dem Selbstwert scheint „Wertschätzung“ also auf jeden Fall eine gewisse Rolle zu spielen.
Achtsamkeit bewertet nicht, jedenfalls im besten Fall. Dieses zentrale Prinzip der Achtsamkeit scheint gar keinen Raum zu haben für etwas wie Wertschätzung. Nein, in der Logik dieses Prinzips verträgt sich Achtsamkeit nicht mit einem hierarchisierenden Separieren infolge des Zuweisens eines Wertes. Wenn in der Lesart der Achtsamkeit alles so sein darf, wie es ist, dann geht die Tendenz der Achtsamkeit entschieden mehr in Richtung von Verbundenheit und Einheit. Hierarchisierung ist da keine erstrebenswerte Option. Wir Menschen, insbesondere in Deutschland, pflegen indes gerne unsere Rangordnungen. Und mit unserer Bewerteritis sind wir schnell bei der Hand, lassen uns zu Wertungen verleiten wie „Das ist falsch“, „Das ist richtig“, „Du solltest das tun“, „Du solltest so sein“, „Das ist doch nichts“, „Das ist brotlose Kunst“, usw., usw. . Unsere Normen und unsere Konzepte von der Welt schaffen ihre eigenen Ordnungen und da fällt dann gerne auch mal was ganz aus dem Raster. Bei diesem Aussieben erhält das, was keinen Platz im vorgegebenen Rahmen findet, schnell mal das Label „wertlos“. Wir sehen, es sind die Bewertungsmaßstäbe und Bewertungsrahmen, die sehr trennend wirken und in Sachen Wertschätzung sehr folgenreich sein können.
Fingerzeige der Achtsamkeitspraxis
Ernsthaft: Kann es so etwas wie eine achtsame Wertschätzung überhaupt geben? Und wenn ja, wie können wir diese Wertschätzung praktizieren? Hier hilft uns der Blick auf praktische Erfahrungen.
Die einfachste und wichtigste Achtsamkeitsübung ist für mich das bloße still werden, sich sinken lassen in den Moment, und zwar ohne auftauchende Erfahrungen mit Namen und Begrifflichkeiten zu versehen. Nichts wissen, nichts bewerten, nirgendwo hin müssen und nichts erreichen müssen. Einfach nur dies hier, jetzt, die schlichte Erfahrung des Moments. Keine Gedanken. Und wenn doch welche auftauchen, sie nur als Denken bemerken und sich nicht in den Inhalt verwickeln. Gedanken kommen und gehen wie Ereignisse – allenfalls. Wenn es uns gelingt, so zu verweilen und wenn unsere Aufmerksamkeit in einem solchen Moment zum Beispiel auf eine Pflanze am Weg oder auf etwas anderes in der Natur fällt, dann kann es geschehen, dass wir das visuell Wahrgenommene als eine Art Wunder empfinden, irgendwie zauberhaft. Und gleichzeitig kann es sein, dass völlig bedingungslos und unabhängig ein Glücksempfinden in uns aufsteigt.
Ähnliches geschieht beim achtsamen Essen. Dann, wenn wir ganz aufmerksam beim Geschmackserlebnis sind, wenn wir Details herausschmecken, ohne dafür Namen und Begrifflichkeiten zu brauchen, also ohne etwas vermeintlich zu (er)kennen. Ja, wenn wir einfach nur in dieser reichen Erfahrung dieses Geschmackskosmos sind, dann ist es faszinierend. Es ist ein unbeschreibliches Erleben. Beschreiben macht es sogar eher zunichte, als dass es dem irgendwas Nützliches hinzufügen könnte.
Achtsame Wertschätzung – Eine Ableitung
Was geschieht bei diesen achtsamen Erlebnissen? Bewertungen, gar Namen und Begrifflichkeiten bleiben außen vor und es entfaltet sich dennoch, ganz von allein, eine Art Wertschätzung für das Wahrgenommene. Sie lässt sich allerdings nicht gut in Worte fassen. Und es ist eine Wertschätzung, die sich nicht für Rangordnungen, also Hierarchisierungen interessiert, denn sie basiert nicht auf wirklichen Bewertungen nach irgendwelchen Maßstäben. Diese Wertschätzung vergleicht nicht was besser, schöner oder weniger gut, weniger schön ist. In ihren Augen ist spontan und unmittelbar alles Wahrgenommene eine Art Wunder, bedingungslos. Diese Wertschätzung staunt und ergötzt sich am schlichten Sosein des wahrgenommenen Objekts. In ihren Augen beginnen alle Wahrnehmungsobjekte zu leuchten.
Eine Wertschätzung, die von selbst aus einer absolut achtsamen Haltung, aus dem achtsamen Moment heraus entsteht. Nur so kann eine wahrhaft achtsame Wertschätzung sein, zweifelsohne.
Achtsame Wertschätzung und Alltag
Nun ist freilich der „normale“ Mensch nicht oft in einer solchen achtsamen Haltung. Im Alltagsleben zerren die unterschiedlichsten Umstände an uns und die Gewohnheit lässt uns nur allzu leicht in Haltungen verfallen, die in Opposition gehen zum Erfahrenen, die widerstreben und bewerten, bewerten, bewerten …. . Für den Alltag brauchen wir möglicherweise eine Art behelfenden Workaround. Wie nun also lässt sich das obige Verständnis einer achtsamen Wertschätzung auf den Alltag herunterbrechen?
Ein Sinn für das Einzigartige
Eine Voraussetzung dafür sind offene Augen und überhaupt offene Sinne. Ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit für die gegenwärtige Erfahrung braucht es in jedem Fall. Und es geht nur, wenn wir einige der Filter und Brillen, die wir allzu oft unserer Wahrnehmung vorschalten, außen vor lassen können. Eine gewisse vorurteilsfreie Neutralität tut not. Dann können wir vielleicht das Wunder sehen, das dieser Mensch vor uns ist: Das, was er tut, tut er auf seine besondere Art und Weise, auch wenn das das eine oder andere Mal schrullig oder recht eigen aussehen mag. Und so, wie dieser Mensch aussieht, ist er einzigartig. Manche Erfahrungen haben sich vielleicht als tiefe Furchen oder seltsame Minen in sein Gesicht eingebrannt, aber ist es nicht eine einzigartige Prägung? Wie bei jeder Pflanze, die wir unvermittelt und unvoreingenommen ansehen, erscheint es wie ein Wunder, dass ein Mensch so aussieht, wie er aussieht, oder dass ein Mensch über vielfältige Wendungen seines Lebenswegs genau so geworden ist. Einzigartig!
Dies ist tatsächlich eine bedingungslose Wertschätzung. Sie hängt nicht ab von bestimmten als „gut“ bewerteten Leistungen, die jemand erbringt. Sie hängt nicht ab von der Erfüllung bestimmter Normen oder Ideale. Es ist dieselbe Wertschätzung, wie sie Eltern empfinden mögen, wenn sie zum ersten mal ihr Neugeborenes sehen. Eine solche Wertschätzung macht es möglich, dass wir die Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit der Putzfrau in der WC-Anlage achten. Trotz ihres geringen Verdienstes hält sie den Ort so gut sauber. Offene Augen lassen uns achten, wie liebevoll und sorgsam ein Raum gestaltet ist, in den wir treten, ohne vielleicht je zu erfahren, wer hier mit Liebe zum Detail am Werk war. Für diese Wertschätzung, die das schlichte Leben an sich achtet, brauchen wir Sinne, die uns berührbar halten. Entscheidend ist, dass wir die Abstumpfung durch all die Bewertungsstempel, die wir Wahrnehmungsobjekten und wahrgenommenen Menschen aufdrücken, überwinden. Nur dann sind wir in der Lage auch im schmutzigsten Bettler mit der zerschlissensten Kleidung eine einzigartige Erscheinung zu sehen.
Verständnis befreit von hypnotischen Schleiern
Neben offenen Sinnen ist Verständnis eine hilfreiche Zutat, um eine achtsame Wertschätzung praktizieren zu können. Verständnis ist in der Lage die allzu leicht verwendeten bewertenden Filter und Brillen zu relativieren oder gar gänzlich ablegen zu können. Die Weisheit des Verstehens kann erkennen, dass der vorgezogene Bewertungsschleier keine Bedeutung hat. So Gott will, löst sich der Schleier im Licht dieses Verständnisses auf.
Das Leben bietet uns manchmal die Möglichkeit, zu erkennen und darum zu wissen, wie sich etwas entwickelt hat, sei es eine Situation oder eine Person. Wir begreifen, dass sich die Situation so ergeben hat und gleichsam nicht anders sein kann. Sie ist folgerichtig und schlicht normal. Wir verstehen. In diesem Licht bröckelt unser Widerstand und es wird leichter, sich mit einer Situation zu arrangieren. Dasselbe gilt für andere Menschen, wenn wir ihre Entwicklung nachvollziehen können und ihre Beweggründe für ihr Verhalten kennen lernen. Dann wird der Mensch für uns verständlich. Dann können wir es vielleicht schätzen, was er trotz vieler Widrigkeiten aus sich gemacht hat oder wie er es geschafft hat unter ungünstigen Umständen nicht zu zerbrechen. Und plötzlich erscheint uns der Mensch vor uns ganz einzigartig und bewundernswert. Was wissen wir denn von all den Menschen, über die wir manchmal so furchtbar schnell unser Urteil fällen? Ja, wahrscheinlich sind wir manchmal sehr vorschnell. Manches an uns selbst, kann man doch auch nur wirklich verstehen, wenn man Hintergründe und Entstehung kennt! Das vermeintliche vorurteilsbehaftete Wissen, das uns zu manchem Urteil verführt, löst sich auf im Licht wirklichen Wissens und Verstehens. Wenn die Brillen und Filter weg gefallen sind, können wir mit offenen Augen sehen und erkennen Vielfalt und Einzigartigkeit.
Die Logik von Ursache und Wirkung
Mit einem tieferen Verständnis können wir auch achten, dass Menschen aus ihren Erfahrungen ganz spezifische Schlüsse ziehen. Wir mögen aufgrund unserer eigenen Erfahrungen diese Schlüsse als „falsch“ bewerten und sie mögen auf uns manchmal sehr exotisch wirken. Wie auch immer, die Schlüsse, die ein Mensch aus seinen Erfahrungen zieht, sind höchstwahrscheinlich absolut folgerichtig. Unter seinen gegebenen Voraussetzungen und aus seiner Sicht muss ein Mensch vielleicht zwangsläufig genau zu solchen Schlüssen gelangen. Und wir können doch nicht ausschließen, dass wir selbst unter denselben Umständen dieselben Schlüsse ziehen würden. Möglicherweise waltet hier schlicht eine unabdingbare Logik von Ursache und Wirkung. Zumindest können solche Erwägungen Anlass geben, etwas mehr hinzuhören und auch mal nachzufragen, wie jemand zu seinen Schlüssen kommt. Nach den Erfahrungen, die dahinter stehen, fragen! Vielleicht können wir dann verstehen, auch wenn wir diese andere Ansicht dennoch nicht teilen können – und natürlich auch nicht müssen. Jedenfalls können so Achtung und Wertschätzung wieder möglich werden.
„Patentrezepte“ sind selten individuell kompatibel
Noch etwas: Weil jeder Mensch speziell ist und auf einer anderen Erfahrungsbasis steht, sind gewisse Patentrezepte, die anderen gerne per Ratschlag angetragen werden, selten sinnvoll. „Du musst es so machen!“ Wirklich? Das beliebte „müssen“ geht überdies weit über den Charakter eines Ratschlags hinaus. Das Erfolgsrezept eines Menschen kann schlicht ungeeignet sein für einen anderen, selbst wenn es sich für viele bewährt hat. Ein Rezept kann nicht nachgekocht werden, wenn man die entsprechenden Zutaten dazu nicht hat. Menschen können sehr eigene Voraussetzungen mitbringen, die zu gewissen Patentrezepten eben nicht kompatibel sind. Nach einem bestimmten Rezept zu verfahren, kann einem solchen Menschen möglicherweise einfach nicht liegen. Er kann es nicht umsetzen. Und darum brauchen Menschen für ihr Leben Rezepte, die ganz individuell für sie passen. Die vielen gut gemeinten Ratschläge sind nicht nur selten sinnvoll, sie sind auch nicht wertschätzend. Gut gemeinst ist insofern nicht immer gut gemacht. Statt ungefragte und ungeeignete Ratschläge ist ein Erfahrungsaustausch zwischen Menschen weitaus sinnvoller. Was hat der andere für Erfahrungen gemacht? Was habe ich für Erfahrungen gemacht? Ein Austausch bietet die Möglichkeit, für sich Ideen und Inspirationen mitzunehmen und sich das auszusuchen, was passen könnte. Im Übrigen: Wenn wir Menschen erreichen wollen, ist es wohl am Besten, sie dort abzuholen, wo sie selbst sind.
Nein, bei allem Verständnis …
Ich weiß, mein Text in den obigen Abschnitten klingt etwas blauäugig. Es gibt diese Menschen, mit denen manchmal nicht gut Kirschen essen ist. Es gibt Menschen, die einen sehr ungerechtfertigt, geradezu grundlos, angehen können. Da ist es nicht einfach, die Einzigartigkeit und das Wunder, das dieser Mensch ist, irgendwie noch erkennen zu können. Und über derartiges Verhalten darf man ruhig mal den Kopf schütteln. Und man muss manches Verhalten erst recht nicht gut heißen, bei allem Verständnis. Es taugt halt manchmal nicht für das menschliche Miteinander. Ja, es gibt diese Menschen, die sich im Extrem verrannt haben. Und was sie uns manchmal antun, kann man vielleicht nicht leicht vergeben und vergessen. Doch auch dabei hilft letztlich Verständnis. Nötig ist manchmal auch das Verständnis, dass wir uns nur zusätzlich selbst schädigen, wenn wir nicht vergeben können und gewisse Erfahrungen nicht loslassen können. Wenn die Kluft zwischen Menschen zu groß ist und ein wertschätzender Umgang schwerlich gelingt, dann kann es Sinn machen, den Umgang gänzlich zu meiden. Und wenn allgemeine Regeln des Miteinanders missachtet werden, dann kann es unumgänglich sein, dass Regelverstöße angemessen geahndet werden.
Jeder kann was – Einzigartigkeit und Anpassungsdruck
Etwas harmlosere Zeitgenossen machen es uns indes einfacher, sie wertzuschätzen. Mit offenen Augen und mit Verständnis mögen wir hier mit Verwunderung feststellen, was das Leben in einem positiven Sinn in einem Menschen hervor bringt. Und: Jeder kann was. Weil jeder so einzigartig ist, hat jeder zwangsläufig auch gewisse einzigartige Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten zu sehen, macht Wertschätzung leicht. Eigentlich ist es erfreulich und nützlich für uns alle, dass jeder Mensch gewisse einzigartige Fähigkeiten hat. Doch das ist heutzutage noch keine populäre Sichtweise. Statt die Einzigartigkeit von Menschen zu achten, wollen wir sie uns oft genug zurecht biegen, verlangen Anpassung und die Einhaltung von Konventionen, werten Menschen ab, weil sie unserem Bild, wie „man“ sein sollte nicht gerecht werden. Gerade die Politik ist heute noch von der Sichtweise geprägt, dass Menschen sich dem System anpassen müssen. Dass es viel eher Aufgabe der Politik sein sollte, den Rahmen, sprich das System, den Menschen so gut wie möglich anzupassen, scheint oft keine Option zu sein. Verkehrte Welt: In vielen Fällen haben von uns Menschen geschaffene Strukturen die Oberhand gewonnen und statt uns zu dienen geben sie nun uns den Takt vor.
Wertschätzung gegenüber sich selbst
Was für eine achtsame Sicht auf andere gilt, hat natürlich auch uns selbst gegenüber seine Berechtigung. Können wir mit offenen Augen das Wunder wertschätzen, das wir selbst sind? Wir sind einzigartig! Auch wir selbst haben unsere ganz spezifischen Qualitäten und Eigenschaften. Und warum sollten wir nicht auch uns selbst mit Verständnis betrachten? Wir wissen doch selbst gut genug, was uns zu bestimmten Verhaltensweisen veranlasst hat. Fehler? Kommt darauf an, wie man es sieht. Konnte ich denn tatsächlich anders? Wollte ich einen „Fehler“ begehen? Es ist auch in unserem eigenen Verhalten eine gewisse Logik, die Verständnis durchaus angebracht erscheinen lässt. Und wenn die Brillen und Filter weg fallen, die wir zu Unrecht auf uns anwenden, dann werden wir wieder okay. Dann kommen wir mit uns ins Reine. Achtung und Wertschätzung uns selbst gegenüber nehmen sich dann den Raum, den Selbstvorwürfe und verquere Erwartungen frei gegeben haben.
Achtsame Wertschätzung: Das Wunder sehen
Wie man sieht, hat eine achtsame Wertschätzung im Alltag viel mit Verständnis zu tun. Verständnis weitet den Blick und reduziert die zwischenmenschlichen Barrieren, die Begegnungen behindern. Verständnis öffnet die Augen und macht uns berührbar. Und je mehr wir in achtsamer Weise Situationen, Menschen und uns selbst so akzeptieren können wie sie und wir sind, desto mehr kann eine achtsame Wertschätzung erblühen. Wenn wir zulassen und lassen können, enthüllt sich für uns Stück für Stück das Wunder, das der andere ist, das Wunder, das wir selbst sind.
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