Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Akzeptanz: Dem Hadern auf den Grund gehen
Manchmal geschehen in unserem Leben Dinge, die schwer erträglich scheinen. Lebenserfahrungen, an denen wir zu knabbern haben. Erfahrungen, die uns keine Ruhe lassen, oder vielmehr, Erfahrungen, die wir nicht ruhen lassen können, die wir nicht loslassen können. Manchmal geht es dabei auch um vermeintliche Fehler, die wir selbst begangen haben. Wir hadern mit dem Geschehenen oder gegenwärtigen Umständen, können es erst mal nicht akzeptieren. Es geht also um Akzeptanz. Ein wichtiges Thema in der Achtsamkeitspraxis. Im Sinne der Achtsamkeit möchten wir ja allem, was in unserem Leben auftaucht, wertfrei und annehmend begegnen. Das gilt auch für die Haltung gegenüber uns selbst. Es stellt sich schließlich die Frage, wie wir mit dem zuweilen dennoch auftretenden Hadern umgehen können. Um eine Antwort zu finden, ist es nötig, zu verstehen, was beim Hadern geschieht und um was es eigentlich wirklich geht.
Die zwei Arten des Haderns
Wenn wir hadern, wollen wir eine bestimmte Lebenserfahrung nicht haben und sind damit in Unfrieden. Den meisten geht es gewiss zudem so, dass sie das Hadern eigentlich ebenso nicht haben möchten. Es fühlt sich nicht wirklich gut an. Nach meiner Erfahrung gibt es zwei Arten zu hadern. Die einen hadern mit sich selbst, weil sie vermeintlich einen Fehler gemacht haben, der ein unerwünschtes Resultat gezeitigt hat. Die anderen hadern mit ihrem „Schicksal“, sprich mit dem eigenen Leben und seinen Lebensumständen.
Der Ausgangspunkt. Die Brille des Haders
Das alte Lied. Der vielleicht größte Stolperstein der Achtsamkeitspraxis ist das „Bewerten“. Auch Hadern beginnt mit der Sicht durch die Bewertungsbrille. Im einen Fall bewerten wir etwas, das wir getan haben, als Fehler. Nein, diesen Fehler hätten wir nicht machen dürfen! Wir hatten vielleicht einen überlegten und ausgefeilten Plan. Vielleicht haben wir sogar geübt, alles richtig zu machen. Das nehmen wir persönlich: Dieser Fehler hätte uns einfach nicht passieren dürfen! Es riecht nach perfektionistischem Anspruch und hagelt Selbstvorwürfe. Und die andere Art zu hadern? Da bewerten wir ein Geschehnis, das uns widerfahren ist, als unerträglich. Das Geschehene oder die eingetretenen Lebensumstände verletzen einen unserer wichtigen Werte. Ich selbst kenne diese Art des Haderns und mein verletzter Wert heißt „Gerechtigkeit“ oder „Fairness“. Ich weiß tatsächlich nicht, ob es bei dieser Art des Haderns auch noch andere Werte gibt, die verletzt sein können und zum Ausgangspunkt des Haderns werden. Vielleicht geht es immer um „Gerechtigkeit“? Jedenfalls: Was geschehen ist, scheint einfach nicht okay. Das darf es einfach nicht geben! So nicht! Während wir bei der ersten Variante des Haderns in uns selbst den Sündenbock für unsere Misere leicht ausmachen können, ist es bei der zweiten Variante nicht ganz so griffig. Wen wollen wir verantwortlich machen? Das Leben? Das Schicksal? Gott? All das ist schwer greifbar und bleibt irgendwie im Abstrakten.
Hadern und sein emotionaler Kern
Neben dem „Bewerten“ als Ausgangspunkt des Haderns gibt es auch noch ein emotionales Geschehen. Es gibt einen Schmerz, den wir nicht spüren wollen. Es ist müßig ergründen zu wollen, ob der Schmerz eintritt nachdem wir bewertet haben oder ob der Schmerz schon zuvor oder gleichzeitig da ist. Das Hadern hat schlicht deshalb diese Intensität, weil uns etwas sehr schmerzt. Achtsamkeit verschließt vor den unangenehmen Dingen nicht die Augen: Diesem Schmerz sollten wir uns bewusst zuwenden.
Die Funktion des Haderns
Hadern hilft uns in gewisser Weise mit unserem Schmerz umzugehen. Ja, es ist ein Ventil, das den Druck des Schmerzes, den Leidensdruck, etwas ablässt. Es schafft einen gewissen Ausdruck für den Schmerz, wir reagieren uns etwas ab. Tatsächlich aber kreist das Hadern sozusagen um den heißen Brei. Es weicht dem Schmerz in Wirklichkeit aus. Es sagt nicht „Es tut mir so weh!“. Nein, Hadern beschuldigt. Unbewusst spüren wir, dass uns ein bestimmter Umstand sehr weh tut. An der Oberfläche aber suchen wir uns einen Schuldigen, an den wir uns halten können: Wir selbst oder zum Beispiel das mysteriöse „Schicksal“. Ich denke, es ist erst mal okay, wenn wir hadern. Es gibt kein Gesetz, dass wir uns gleich halsüberkopf in das Zentrum des Leids stürzen müssen. Selbstfürsorge! Der Schmerz ist unangenehm und schwer erträglich, also ist es wohl sehr angemessen, sich behutsam heran zu tasten.
Die Logik. Hadern hat seine Berechtigung
Nicht nur, weil Hadern eine gewisse Funktion erfüllt, hat es seine Berechtigung. Wir sollten das Hadern nicht einfach zum Feind machen, den wir bekämpfen müssen. Wenn wir die Prämisse, also die Bewertung, von der das Hadern ausgeht, denken, dann ist es so: Wir haben gemessen an unserem Anspruch einen Fehler gemacht. Oder: Das „Schicksal“ ist gemessen an unserem Gerechtigkeitsempfinden unfair. Sicher, die Prämisse ist zweifelhaft, aber die daraus resultierende Logik ist folgerichtig und die Schlussfolgerung berechtigt.
Der erste achtsame Schritt: Das Hadern akzeptieren
Wenn wir hadern, dann ist es schon um uns geschehen. Das Hadern ist existent. Und deshalb beginnt die Akzeptanz eben dort wo wir stehen, nämlich beim Hadern. Wenn wir anfangen, auch noch das Hadern zu bekämpfen, dann setzen wir nur noch eins drauf. Wir machen es eher größer, weil wir ihm Bedeutung zuweisen. Nein, so werden wir es nicht los. Versuchen wir also zu akzeptieren, dass wir nun mal hadern. Es ist die Realität, so wie sie ist. Um akzeptieren zu können, helfen uns einige Einsichten. Eine davon ist, dass es nun mal ist, wie es schon ist. Auf einige andere Einsichten bin ich in diesem Text schon eingegangen: Unsere Bewertungsbrille, Schmerz, die Ventilfunktion des Haderns und die Logik und Berechtigung des Haderns. Das Hadern kommt nicht von ungefähr.
Der zweite achtsame Schritt: Sich dem Schmerz zuwenden
Man könnte sagen, wir brauchen das Hadern nicht, wenn wir den darunter verborgenen Schmerz annehmend fühlen können. Sagen wir also zu uns: Ja, da ist Schmerz, ja es tut weh, und auf diese Weise fühlt es sich an. Wie immer in der Achtsamkeitspraxis helfen uns hier etwas Neugier und Interesse für dieses Phänomen, dem wir noch nie wirklich begegnet sind. Ergründen wir es! Wie ist dieser Schmerz? Wenn wir den Schmerz da lassen können, haben wir keinen Grund mehr zu kämpfen und immerzu hadernd um ihn herum zu tanzen. Es ist übrigens völlig egal, warum der Schmerz vermeintlich da ist. Es geht nur um die Tatsache, dass er da ist und darum, ihn zu fühlen.
Sich vom Hadern lösen können. Einsichten.
Zunächst einmal seien einige fundamentale Einsichten der Achtsamkeitspraxis genannt, die den eigentlichen Unfug des Haderns offenlegen. Wir hadern in der Regel mit etwas Vergangenem, manchmal auch mit gegenwärtigen Lebensumständen, die allerdings nur ein Ergebnis vergangener Geschehnisse sind. In der Achtsamkeitspraxis wollen wir uns dem annehmend zuwenden, was hier, jetzt da ist. Weil das Hadern die Realität ablehnt und gar noch an der unabänderlichen Vergangenheit herummäkelt, ergibt es keinen Sinn. Als nächstes: In der Achtsamkeitspraxis wollen wir ja das Bewerten möglichst unterlassen. Aber wie bewerten wir eigentlich, wenn wir hadern?
Hadern wir mit uns selbst, dann werfen wir uns einen Fehler vor. Tatsächlich sind in uns aber gewisse Prägungen und Gewohnheiten oft so tief verwurzelt, dass sie gerne mal die Oberhand behalten. Da können wir noch so sehr einen perfekten Plan haben und uns noch so sehr Perfektion vorgenommen haben. Dieser dominanten Übermacht sind wir manchmal nicht gewachsen. Und so passieren vermeintliche ‚Fehler‘. Nicht nur das: Pläne sind ziemlich fixe Vorstellungen. Das Leben aber ist flexibel, ständig in Veränderung. Es lässt sich nicht in das Gefängnis unserer Pläne sperren. Freilich, gerne möchten wir das Bestmögliche tun. Und ‚Fehler‘ nehmen wir uns gewiss nicht vor.
Und wenn unser Gerechtigkeitssinn mit dem Leben oder dem Schicksal hadert? Ist es nicht so, dass es in der Welt und im Leben sowohl Gerechtigkeit, als auch Ungerechtigkeit gleichermaßen gibt? Es kann nicht nur Gerechtigkeit geben. Mehr noch, unsere Einflussmöglichkeiten auf Ergebnisse oder Geschehnisse, die in unserem Leben eintreten, sind beschränkt. Es gibt zu viele Einflussfaktoren. Wieder können wir nur unser Bestmögliches tun. Aber es gibt keine Gewähr dafür, dass unser Bestmögliches „gerechte“ Ergebnisse zeitigt. Es ist gut, einen Gerechtigkeitssinn zu haben. Nach dessen Werten handeln, können wir aber nur selbst. Das hat keinerlei Einfluss darauf, ob sich das ‚Schicksal‘ uns gegenüber ebenso gerecht verhält. Letztlich sind wir ohnmächtig ausgeliefert.
Die wichtigste Einsicht über das Hadern
Und damit kommen wir zur vielleicht wichtigsten Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Hadern: Wir möchten Kontrolle über uns und unser Leben haben. Beim Hadern geht es im Kern um Kontrolle – und die haben wir nicht! Wir haben keine wirkliche Kontrolle über unser gesamtes Verhalten, auch nicht darüber, ob wir krank werden oder nicht. Schon gar nicht haben wir Kontrolle über all die vielfältigen Entwicklungsstränge des Lebens. Viele Einflüsse bedingen die entstehenden Umstände. Da brauchen wir nicht gleich an Naturkatastrophen zu denken. Unser Bild von uns selbst, das Ego, und unser Bild oder Plan vom Leben, lassen uns nach Kontrolle streben. Doch weder wir noch die Welt sind so, wie wir es uns zusammendichten. Wir und die Welt sind gewissermaßen wie es sich ergibt. Insofern haben wir es letztlich nicht in der Hand – keine Kontrolle. Wenn wir hadern, ist es nach meiner Erfahrung hilfreich, sich diese Einsicht bewusst zu machen. Wenn wir mit uns selbst hadern, ist das entlastend, denn es nimmt etwas die Last der vermeintlichen Verantwortung von unseren Schultern. Wenn wir mit dem Schicksal, dem Leben oder Gott hadern, dann hilft es vielleicht, die Umstände unseres Lebens nicht so persönlich zu nehmen. Schlussendlich also können wir uns selbst nicht gänzlich im Griff haben und auch ‚die Welt‘ dreht sich nicht um uns als den Nabel dieser Welt.
Hallo Mariposa! Herzlichen Dank für Deinen offenen und ehrlichen Kommentar! Und ja, es ist manchmal sehr schwierig, ich weiss das nur zu gut aus eigener Erfahrung. Manche Lebensumstände können sehr schmerzen. Wir können nur versuchen, den Schmerz anzunehmen und zu fühlen. Sich zugestehen, dass es weh tut. Erwartungen erkennen, die wir haben und die besagen, es sollte anders sein. Nein, es ist so! Wenn wir uns darauf einlassen können und lernen, es ohne Erwartung zu (er)tragen, ist eine gewisse Desensibilisierung möglich. Ja, wir können damit leben, auch wenn es nur ein irgendwie damit leben ist. Es ist besonders wichtig, dass wir uns zugestehen, dass wir gar nichts müssen, schon gar nicht perfekt sein. Es gelingt uns mit Lebensumständen umzugehen genau so, wie es Stand heute für uns möglich ist. Und wenn wir verstehen, dass wir hadern dürfen, aber dass es uns ja keineswegs wirklich hilft, dann helfen die Einsichten über das Hadern, mit der Zeit weitgehend davon abzulassen. Wir vergleichen uns gerne mit anderen, ohne wirklich in die anderen hinein schauen zu können und wirklich etwas über sie zu wissen. Du merkst selbst, dass dieses Vergleichen, gerade wenn wir dabei vermeintlich schlecht abschneiden, nicht hilfreich ist. Jede*r ist ein Unikat! Es ist hilfreich, wenn wir bei uns selbst bleiben und einfach versuchen, das zu leben, was uns ausmacht. So gut es eben geht. Bestmöglich. Und ja, darauf können wir dann stolz sein. Ja, manchen Menschen legt das Leben dabei viele Steine in den Weg. Ich kann ein Lied davon singen und derlei Erfahrungen bestätigen einfach nur, dass wir eben keine Kontrolle haben. Unsere Gesellschaft ist aber ganz darauf ausgerichtet, sein Leben zu kontrollieren. Diese Tendenz ist uns quasi in die Wiege gelegt und das macht es nicht leichter.Gerade die derzeitige Corona-Pandemie lehrt uns aber, dass das, was wir glaubten, sicher zu haben, uns morgen schon aus den Händen gleiten kann.Wir können also nur Einsicht gewinnen in diese Natur des Lebens und vielleicht irgendwann innerlich flexibel und „gleichmütig“ gegenüber Umständen werden. Im besten Fall können wir aus den sauren Zitronen Limonade machen. In solch einer Flexibilität liegt eine enorme, bewundernswerte Kreativität. Es gibt nicht wirklich etwas zu hadern: So, wie wir sind, sind wir einzigartig. Wir tun einfach unser Bestmögliches und bleiben in Frieden. In Frieden vor allem mit uns selbst und letztlich dann auch in Frieden mit unserem Leben und seinen Umständen.
Herzliche und mitfühlende Grüße,
Rigobert
Sehr interessanter und gut verständlicher Beitrag. Hadere gerade sehr. Ich hänge noch an der Kontrolle. Ja eine Portion Glück im Leben ist notwendig. Und ich versuche mich gesund zu halten, um das Glück dann auch erleben und genießen zu können. Es ist einfach schwierig IM Umfeld fast nur Personen zu haben, die das Leben leben das ich gerne hätte (schon klar, dass es ihnen auch nicht immer nur gut geht). Kann mich und mein Leben gerade nicht mit Stolz betrachten.