Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Persönlichkeit. Jenseits der Selbstoptimierung.
Der stete Wandel ist der Wesenskern des Lebens. Alles ist in Veränderung, immer. Liegt es an diesem fortwährenden Impuls zur Veränderung, den das Leben schon in uns legt, dass wir oft selbst mit einem gewissen Nachdruck Veränderung anstreben? Bestimmte Lebensumstände sollten anders sein. Überhaupt sollte unser Leben anders sein … . Von Zeit zu Zeit denken wir so. Und wir erwarten von uns infolgedessen immer wieder auch, dass wir uns selbst verändern und entwickeln. Und so wird oft versucht, sich aktiv in bestimmte Richtungen zu entwickeln, sich selbst zu optimieren. Was ist im Sinne der Achtsamkeit hilfreich und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung? Der Zeitgeist erscheint manchmal so, als sei ein Optimierungswettlauf ausgerufen worden. Schneller, weiter, höher, schöner … Leistung! Selbst die Achtsamkeitspraxis muss sich in diesem Umfeld vorsehen, dass sie nicht zu einem Werkzeug einer beruflich gewünschten Leistungsoptimierung gemacht wird.
Der Einzug der Achtsamkeit in die Unternehmen
Es ist sicherlich eine gute Nachricht, dass Achtsamkeit inzwischen Einzug hält in große Unternehmen. Chade-Meng Tan hat bei Google das Programm „Search Inside Yourself“ entwickelt. Das Achtsamkeitsprogramm ist ein Hit des betrieblichen Fortbildungsangebots. SAP hat „Search Inside Yourself“ von Google übernommen und es wurde dort „das mit Abstand populärste Trainingsprogramm“ (Peter Bostelmann, „Director of Global Mindfulness Practice“ bei SAP, im Interview mit „moment by moment„). Ca. 4500 Mitarbeiter wurden bis heute geschult, etwa 5500 stehen auf der Warteliste. Am Hauptsitz Walldorf haben von 13000 Mitarbeitern etwa 2000 das Programm durchlaufen und dafür gesorgt, dass in einigen Abteilungen eine „kritische Masse“ (Peter Bostelmann) erreicht ist, die sich auch auf die Ungeschulten auswirkt. Die Walldorfer führen heute mehr Achtsamkeitstrainings durch als Google! SAP hat inzwischen Anfragen von anderen Unternehmen, die ihre Unternehmenskultur ebenso verändern möchten, vielleicht auch deshalb, weil das Programm auch den wirtschaftlichen Erfolg von SAP zu unterstützen scheint. So jedenfalls interpretiert Peter Bostelmann Daten wie das signifikant gestiegene Mitarbeiterengagement und das Vertrauen in die Führungskräfte bei gleichzeitigem signifikanten Rückgang von Fehlzeiten. Gerade bei SAP scheint diese Entwicklung nicht von der Absicht angetrieben zu sein, die Leistung der Mitarbeiter zu optimieren.
Achtsamkeit zur Leistungsoptimierung?
Es ist wissenschaftlich belegt, dass Achtsamkeit uns widerstandsfähiger gegen Stress machen kann. Anders als SAP könnte dieser Fakt manches Unternehmen, durchaus dazu verleiten, eine durch Achtsamkeitstrainings erreichte Resilienzzunahme dazu zu nutzen, ihren Beschäftigten ein Mehr an Leistungsanforderungen aufzubürden. Achtsamkeit zwecks beruflich gewünschter Leistungsoptimierung? Diese Idee kann man haben, aber ich denke Achtsamkeit macht diesem Ansinnen dann doch auch wieder einen Strich durch die Rechnung. Achtsamkeit lehrt auch auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Und das kann zur Folge haben, dass Beschäftigte die unternehmensseitig gewünschte Leistungsoptimierung einfach nicht mitmachen und stattdessen gar das Weite suchen. Selbst bei SAP gibt es einzelne Mitarbeiter, die das Unternehmen verlassen, nachdem sie durch Achtsamkeit wieder mehr in Kontakt mit sich selbst gekommen sind und zum Schluss kamen, dass sie bei SAP nicht mehr an der richtigen Stelle sind.
Persönlichkeitsentwicklung? Wozu und wohin?
Es könnte sein, dass in den nächsten Jahren gerade von der Unternehmensseite her eine Welle der achtsamkeitsbasierten Persönlichkeitsentwicklung breite Schichten der Bevölkerung erreicht. Hier tut sich was. Achtsamkeit ist für die persönliche Entwicklung und Balance gewiss ein Gewinn. Das lässt sich jedenfalls durch die in Studien nachgewiesenen positiven Effekte der Achtsamkeitspraxis schlussfolgern. Dennoch: Muss ich als Individuum mich überhaupt persönlich weiter entwickeln? Und was für eine Persönlichkeitsentwicklung wäre überhaupt erstrebenswert?
„Frage nicht, was die Welt braucht. Frage dich selbst, was dich lebendig macht, und gehe und tue das, denn was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind.“ Ein Zitat von Howard Thurmann, ein amerikanischer Autor, Philosoph, Theologe, ein Führer und Mentor der Bürgerrechtsbewegung. Dieses Zitat drückt für mich treffend aus, worum es bei Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nur gehen kann: Wir selbst sein. Eben nicht etwas anstreben, obwohl es uns nicht gut entspricht. Nicht vermeintlich wünschenswerte Fähigkeiten entwickeln, weil man damit Karriere machen kann, sondern einfach ganz und gar zu uns selbst finden. Achtsamkeit ist eine Haltung, die die Selbstfindung sehr unterstützt. Achtsamkeit wendet sich der Wirklichkeit zu und kann den Nebel von Vorstellungen, Erwartungen oder Glaubenssätzen durchdringen. Achtsamkeit führt uns so zur wertfreien Wirklichkeit des Lebens und in Einklang damit. Und vor allem kommen wir durch Achtsamkeit auch wieder mehr in Kontakt mit uns selbst. Resilienz zu entwickeln durch Achtsamkeitstrainings, ist nicht dafür da, im Berufsleben besser durchhalten zu können. Warum sollte man die Ambition haben, mehr von dem ertragen zu können, was vielleicht nicht gut läuft und nicht gut tut? Diese Art der Persönlichkeitsoptimierung führt mehr von uns weg als zu uns hin.
Wozu Persönlichkeitsentwicklung? Versprechen wir uns davon bessere Karrierechancen? Wollen wir besser mit Herausforderungen unseres Lebens umgehen können? Der Anfang jeder gesunden Persönlichkeitsentwicklung beginnt in meinen Augen mit der Frage: Wer bin ich als Person und was entspricht dieser Person wirklich? Das schließt die Frage mit ein „Was liebe ich zu tun?“. Zeit unseres Lebens werden wir bearbeitet, Vorstellungen zu entsprechen und bestimmte gewünschte Leistungen zu erbringen. Erziehung und Schule zielen nicht immer darauf ab, unser eigentliches Wesen zu entfalten. Und selbst Arbeitslose bleiben nicht verschont: Die Agendapolitik hat dazu geführt, dass arbeitslose Menschen bewusst gedrängt werden, relativ beliebige Jobs anzunehmen. Macht all das Sinn? Sich nach gewissen Vorstellungen zurecht biegen wollen oder sollen, ist künstlich. Dem fehlt die vitale Energie der Authentizität. Weil wir derartige Kopfgeburten zu wenig selbst sind, bleiben wir dabei eher blass, uninspiriert und uninspirierend. Und wir schleppen vielleicht eine Unzufriedenheit mit uns herum, weil wir die Unstimmigkeit spüren und uns dann einfach nicht so recht mit unserem Tun identifizieren können. Eine Persönlichkeitsentwicklung, die so ausgerichtet ist, ist ein Irrweg. Wir können nicht anders als wir sind. Unser wirkliches Wesen wird bei einer irregeleiteten Persönlichkeitsentwicklung dazwischen funken. Kurzum: Das kann einfach nicht funktionieren!
Die Grundlagen wirklicher Persönlichkeitsentwicklung
Wenn man will, könnte man auch sagen, dass es ein genetisches Programm gibt, genetische Anlagen, die zu einem bestimmten Selbstausdruck streben. Es macht doch keinen Sinn, diesen Anlagen nicht zu entsprechen und sie auf abwegige Gleise umzuleiten. Leider ist unser heutiges gesellschaftliches System in weiten Teilen so strukturiert. Tatsächlich kann es bei Persönlichkeitsentwicklung allein nur um die Entfaltung unseres einzigartigen Wesens mit seinem innewohnenden Potential gehen. Das nähren, was schon da ist. Wie ein Gärtner den Boden bereiten. Barrieren aus dem Weg räumen. Gemeint sind beispielsweise die unbegründeten Selbstzweifel und all die Widrigkeiten, die von außen auf uns einströmen. Menschen und Strukturen, die uns anders haben wollen und vermeintlich besser wissen, was gut für uns ist.
Zuallererst müssen wir wissen, wer wir als Person sind. Was liebe ich zu tun? Worauf richtet sich immer wieder mein Interesse und was ist das, was für mich dabei im Zentrum steht? Um was geht es mir wieder und wieder? Was sind meine Werte? Zuallererst brauchen wir diese Art der Selbsterkenntnis. Wenn wir unsere Handlungen beobachten und untersuchen finden wir Antworten. Zudem gibt es Anleitungen und Hilfsmittel, die uns bei unserer Selbsterkenntnis unterstützen können. Im zweiten Schritt können wir unser Leben mehr und mehr nach dem ausrichten, was wir als Wesenskern unserer Person erkannt haben. Da viele von uns sich auf Abwegen befinden, gilt es für die Meisten, mehr Möglichkeiten zu finden, das zu tun, was wir lieben. Es einfach tun, auch wenn wir vielleicht nur in einem kleinen Rahmen anfangen und kleine Brötchen backen. Wir müssen daraus nicht gleich einen Beruf machen! Es geht wirklich nur darum, mehr und mehr Dingen nachzugehen, die wir lieben, weil sie unseren Wesenskern ausdrücken. Mit der Zeit können wir das intensivieren, dem mehr Vorrang einräumen.
Der Clou ist, dass wir in dem, was wir lieben, aufgehen. Es ist für uns nichts wirklich Anstrengendes. Wenn wir uns darin entwickeln, dann ist es freilich dennoch eine gewisse Herausforderung. Wir haben aber in uns das Potential, die Herausforderung zu bewältigen, weil unser Tun unserer Natur entspricht. Beste Voraussetzungen für Flow-Zustände, die eine unglaubliche Performance möglich machen.
Was Dinge wie Selbstzweifel und Widrigkeiten von außen betrifft, so hilft zweierlei. Wenn ich einmal weiß, wer ich als Person bin, dann habe ich einen Anker, der Zweifeln und Widrigkeiten widerstehen kann. Zum anderen ist es wichtig zu begreifen, dass wir grundsätzlich okay sind, so wie wir sind. Das zu verstehen, hilft mit der eigenen unbegründeten Infragestellung aufzuhören. Ich habe darüber im Beitrag „Du bist okay!“ schon einmal geschrieben und gehe hier nicht weiter darauf ein.
Leben, was man liebt
Es gibt eine Falle, in die man gerne einmal tappt, wenn man weiß, wer man als Person ist und versucht, das zu leben. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Wenn ich für interessierte Menschen eine Achtsamkeitsübung anleite oder wenn ich gar einen Vortrag über Achtsamkeit halte, passiert es gerne mal, dass ich davor unsicher bin und nervös werde. Als achtsamer Mensch sagt man sich dann „Okay, es ist jetzt so. Ich nehme meine Monster an die Hand und gehe mit ihnen meinen Weg weiter.“ Die Frage aber ist: Warum sollte ich mich überhaupt unsicher fühlen, wenn ich etwas tue, das meinem Wesen entspricht? Verunsicherung, bei etwas, das ich liebe? Ich spreche jetzt nicht vom Vorträge halten, sondern vom Reden über Achtsamkeit. Ich spreche nicht von Übungsleiter sein, sondern von etwas wie Meditieren. Was in solchen Situationen geschieht, ist, dass wir aus etwas, das uns entspricht, eine Aufgabe machen und den eigentlichen Inhalt, den wir lieben, mit der Funktion die die Person in diesem Moment einnimmt, überlagern. Was hilft, ist, sich klar zu machen, dass es nicht darum geht, eine Aufgabe zu erfüllen oder eine Funktion auszufüllen, sondern darum, das zu tun, was ich liebe, der zu sein, der ich ja schon bin! Die Sichtweise ist entscheidend: Den Blick nicht auf die vermeintliche Aufgabe richten, sondern die Gelegenheit nutzen, etwas zu genießen, das ich liebe. Ein schönes Beispiel dazu ist der Fußballlehrer Jürgen Klopp. In seiner Zeit als Trainer von Borussia Dortmund habe ich von ihm in Interviews öfters gehört, dass er zu den Spielern sagte: „Geht raus und habt Spaß!“
Persönlichkeitsentwicklung ist Selbstfindung
Ich selbst zu sein ist keine Aufgabe. Wir sind schon wir selbst. Kampf und Krampf führen in die Irre. Entwicklung und Wachstum sind keine Optimierung. Sie sind im Sinne von Howard Thurmann ein Lebendig-Sein. Und es kann immer nur die Art von Entfaltung sichtbar werden, die für uns Stand jetzt möglich ist. Es ist immer genug. Der Anspruch der Optimierung wertet uns nur ab. Weil Persönlichkeitsentwicklung nur als Entfaltung des eigenen Wesens funktioniert, ist sie Selbstfindung. Es geht eben nicht um ein Mehr, sondern nur um ein Weniger. Weniger von all dem, was man vermeintlich sein soll, was man tun sollte, wie man sich entwickeln sollte … . Wir erblühen von ganz alleine, wenn wir den nährenden Raum erhalten, zu tun, was wir schon lieben. Wir können darin richtig gut werden. Wir können aus unserem Wesenskern heraus in die wesensgemäße Person hineinwachsen. Die Person (lat. von „personare“: durchklingen) kann die Melodie unseres Wesens erklingen lassen. Dafür sagen wir einfach nur ja zu uns selbst und wir öffnen uns mehr und mehr dafür, zu tun, was wir lieben und zu offenbaren, wer wir im Grunde schon immer sind.
Dieser Beitrag nahm an der von Business & Life Coach Gregor Wojtowicz ausgerufenen Blogparade zum Thema aktive Persönlichkeitsentwicklung teil: Blogbeitrag von Quality Lifestyle über aktive Persönlichkeitsentwicklung
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