Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Achtsamkeit und Entspannung
Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik, auch wenn selbst Krankenkassen manchmal im Zusammenhang mit Achtsamkeit von einer Entspannungsmethode sprechen. Solche Äußerungen verraten, dass die Autoren Achtsamkeit nicht wirklich verstanden haben. Die Achtsamkeitspraxis kann allerdings sehr wohl im Lebensgefühl und in der Lebenserfahrung eines Menschen entspannend wirken. Ja, Entspannung ist ein sehr wahrscheinlicher Begleitumstand. Mit Blick auf Achtsamkeit und Entspannung sollten wir das eine vom anderen unterscheiden können, auch wenn beides wechselseitig ineinander greift. Zum anderen wird aus Achtsamkeit manchmal unbewusst tatsächlich eine Art Entspannungstechnik gemacht, die dann als ein Werkzeug zur Verdrängung fungiert. In diesem Beitrag möchte ich all das etwas differenzierter beleuchten.
Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik
Achtsamkeit kann allein deshalb keine Entspannungstechnik sein, weil Achtsamkeit ja gar nichts bewirken will. All dem, was im gegenwärtigen Moment schon da ist, begegnen wir in der Achtsamkeitspraxis nach Möglichkeit mit absichtsloser Akzeptanz. Im „Stress“ nehmen wir auch all die Anspannung wahr, die dann gerade da ist. Und im Stress sind wir immer angespannt, keineswegs entspannt. Wenn wir in jenen Momenten im Körper nachspüren, werden wir gerade auch dort körperliche Anspannung vorfinden. Wenn wir Schmerzen haben, werden wir wohl kaum entspannt sein. Wenn wir psychisch leiden auch nicht. Achtsamkeit akzeptiert, dass all das vorkommt, dass es in bestimmten Momenten in unserem Leben gegenwärtig ist. Wenn wir durch diese schwierigen Momente unseres Lebens achtsam hindurch gehen, stellt sich dabei aber höchstwahrscheinlich mehr oder weniger Entspannung ein.
Entspannung ist eine natürliche Begleiterin der Achtsamkeit
Warum ist die Achtsamkeitspraxis gerne mal von Entspannung begleitet? Deshalb: Die automatische Stressreaktion folgt Bewertungen, die wiederum mit Verhaltenskonzepten und konzeptuellen Einstellungen verbunden sind. Erst mal stufen wir etwas als stressig ein. Allein das folgt schon Vorstellungen davon, was für uns Stress ist und was nicht. Und daran knüpfen sich oft gewisse Konzepte, wie wir uns am Besten verhalten. Oder es sind aus früherer Erfahrung oder Konditionierung unbewusst Konzepte für unsere „normale“ Reaktionsweise gleichsam voreingestellt. Die automatische Stressreaktion ist unbewusst. Nebenbei bemerkt: Das hat den Vorteil einer schnellen Reaktion. Da ist kein Nachdenken vonnöten. Und doch kann die automatische Reaktion uns in Teufels Küche bringen. Achtsamkeit hält stattdessen gerne mal inne und nimmt wahr, was da alles automatisch aufkommt. Und genau damit ist der spannungsreiche Stress-Automatismus auch schon durchbrochen und die Reaktion verändert. Ja, denn wir sind in diesem Moment nicht mehr unsere automatische Reaktion, sondern wir gewinnen ein bisschen Abstand und treten durch bloßes Wahrnehmen aus dem Tunnel des Automatismus heraus. Das ist der Aspekt von dem Viktor Frankl sagt:
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
Was ich damit sagen möchte: Wir sind in einer Programmierung verfangen, halten an Konzepten fest. Und im achtsamen Moment lassen wir das los indem wir nur wahrnehmen und uns eben nicht mehr identifizieren. Genau dieses Loslassen in der Achtsamkeitspraxis wird von zunehmender Entspannung begleitet.
Wenn wir im Sinne der Achtsamkeit ohne dieses „Greifen“ nach Konzepten, ohne das Aufgreifen von Bewertungen und ohne Inbesitznahme der erfahrenen Empfindung (z. B. „meine Angst“, „mein Schmerz“, „mein Leid“) mitten in diesem Moment da sind, dann wird es etwas entspannter. Unsere Haltung wird entspannter, weil wir die verkrampften Fixierungen losgelassen haben und keinen Kampf führen gegen das, was sowieso schon da ist. Widerstand und Anstrengung dieses Ankämpfens fallen weg. Wir nehmen dem Schmerzhaften und Leidvollen die Spitze. Weg ist es dann wahrscheinlich nicht, aber wir können es (besser) tolerieren. Achtsamkeit integriert die verbleibenden normalen Spannungen der situativen Umstände. Achtsamkeit ist nicht immer ein spannungsfreier Zustand.
Sich in den Moment hinein entspannen
Ich liebe die Formulierung „sich in den Moment hinein entspannen“. Darin ist die Brücke geschlagen zwischen Achtsamkeit und Entspannung. Die Formulierung meint, dass wir uns dem gegenwärtigen Moment und all dem, was uns in diesem Moment begegnet, mit Akzeptanz hingeben. Es ist, wie es ist! So what?
An dieser Stelle möchte ich eine außergewöhnliche Erfahrung meines Lebens ein Stück weit teilen. Mit einer Intention, die hierfür irrelevant ist, habe ich mich mit etwa 18 Jahren (oder mit 17?) in meinen Jugendsessel – ein gewöhnlicher durchhängender Schwingsessel – gesetzt zu einer Meditation. Von wegen aufrechte Haltung und gerader Rücken … . Ein Ziel war, mich sozusagen so leicht wie möglich zu machen. Nach einigem Experimentieren mündete das in ein bewusstes Aufsuchen von körperlicher Anspannung. Ich durchstreifte meinen Körper und dort, wo ich eine Anspannung verspürte, versuchte ich spielerisch eine innere Haltung dazu zu finden, die in einem Lösen der krampfigen Anspannung resultierte. Da ich manchmal ganz schön beharrlich bin, habe ich es dann wohl irgendwann so weit gebracht, dass ich in meinem Körper gleichsam eine komplette Lockerheit und Entspannung verspürte. Es fühlte sich fantastisch an und ich gab mich dem völlig hin. Daraus entstand etwas wie ein Sog, es zog mich quasi immer weiter ins Loslassen und Glücksgefühle kamen auf. Das war so überwältigend, dass ich mich dem selbst dann noch hingeben konnte als starke Ängste, nämlich Todesängste, aufkamen. Und so war es für mich letztlich irgendwie egal, wenn ich in diesem Moment gestorben wäre. Und dann entfaltete sich die wohl außergewöhnlichste mystische Erfahrung meines Lebens. Ein Licht strömte in mich hinein wie ein tosender Wasserfall. Die Augenlider flatterten deutlich stärker als beim Rapid Eye Movement, wenn wir träumen. Ohne es weiter ausführen zu wollen, – irgendwann erlebte ich eine unbeschreibliche Glückseligkeit und manches mehr. Als ich zunehmend aus der Erfahrung zurück in den Alltag kam, war da ein Empfinden von tiefem Frieden und purem einfachen Sein. Man kann es mit Worten nicht wirklich beschreiben. Ich war völlig präsent in diesem Moment ohne irgendeine andere Ambition. Alles genug. Alles, alles okay, ohne eine „Okay“-Bewertung.
Und was sagt uns das jetzt? Nun, Achtsamkeit und Entspannung sind wechselseitig miteinander verbunden. Völlige Entspannung kann eine vollkommene Achtsamkeit mit sich bringen. Andererseits wird ein Mehr an Achtsamkeit begleitet von einem Mehr an Entspannung, was dann auch heißt, dass wir uns besser in die gegenwärtigen Lebensumstände hinein entspannen können.
Entspannungstechniken und ein unbewusster Missbrauch der Achtsamkeit
Ein Wort nun noch zu den bewussten Versuchen, sich mit Entspannungstechniken zu entspannen und zu einer unbewussten Anwendung von Achtsamkeit als Entspannungsmethode. Für alles mögliche in unserem Leben werden uns oft Entspannungstechniken empfohlen, allen voran die progressive Muskelentspannung und das autogene Training. Um mal herunter zu kommen ist das für den einen oder anderen gewiss kurzfristig nützlich. Aber diese Techniken sind so furchtbar unspezifisch und oft ist das dem Wesen nach doch nichts anderes als Verdrängung und Unterdrückung. Welche Schwierigkeiten unseres Lebens lösen diese Entspannungstechniken? Wenn ich sie zum Beispiel als aufhörwilliger Raucher gegen das Verlangen, die sogenannte Schmacht, anwende, dann versuche ich doch die Schmacht mit der Ablenkung der Entspannungstechnik wegzudrücken. Ja, ich habe dann ein Unterdrückungsinstrument. Doch unter der Oberfläche lauert dann das mit aller Macht weg gehaltene Verlangen auf meinen nächsten schwachen Moment, wo es mich umso stärker kalt erwischen kann. Das ist der Effekt von Entspannungstechniken, wenn sie bewusst gegen etwas zum Einsatz kommen. Damit ist doch nichts gewonnen! Ähnlich kann es uns aber auch mit der Achtsamkeit als Werkzeug gegen Stress ergehen. Wenn wir den immer selben, dem Wesen nach leidvollen Lebensumständen, immer wieder mit Achtsamkeit zu begegnen versuchen, dann gerät das auf Dauer eher zu einer Unterdrückung und Verdrängung. Vielleicht blenden wir ja gleichzeitig mit wenig Achtsamkeit aus, dass wir diese Lebensumstände besser versuchen sollten zu verändern? Wir leiden darunter, z. B. unter einem ungeeigneten Arbeitsverhältnis, so dass es letztlich nichts nützt unter den immer gleichen Umständen wieder und wieder unser Leid achtsam anzunehmen. Das verlängert das Ganze doch wohl eher. Hier braucht es einen höheren Stellenwert der Achtsamkeit gegenüber uns selbst und ein entsprechendes Handeln. Es braucht Unterscheidungsvermögen. Irgendwie müssen wir dann halt da raus. Das ist übrigens immer auch die Kritik daran, Achtsamkeit in der Arbeitswelt einsetzen zu wollen. Die Gefahr liegt darin, dass verbesserungsbedürftige, ungesunde Arbeitsumstände einfach nur mit vermeintlich achtsamer Akzeptanz kaschiert werden und das Eigenwohl ins Hintertreffen gerät. Gegen eine achtsame Unternehmenskultur, die das im Blick hat, ist natürlich nichts einzuwenden, im Gegenteil.
Achtsamkeit und Entspannung – ein Fazit
Achtsamkeit ist keine Entspannungsmethode, denn wir setzen uns mit einer achtsamen Haltung manchmal ganz schön viel Spannungen aus und versuchen eben nicht, irgendwas mit Achtsamkeit weg zu machen. Cave: Achtsamkeit kann allerdings unbewusst einseitig sehr wohl so angewandt werden, dass Leidensumstände ausgeblendet werden und die Selbstfürsorge vernachlässigt wird. Achtsamkeit und Entspannung sind schlussendlich gleichsam ein Paar, das wechselseitig miteinander verbunden ist.
Hallo Rigobert,
ja, du hast Recht – Achtsamkeit ist nicht gleich Entspannung. Und wenn ich irgendwo lese, dass man Entspannungstechniken lernen und üben muss, kann ich nur den Kopf schütteln. Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ich mag es, sehr achtsam durch die Welt zu gehen – das gelingt freilich nicht immer, aber immer öfters. Dadurch gewinnt das Leben so ungemein an Wert, es reihen sich so viele wertvolle Momente aneinander, dass gar nicht mehr so viel Zeit für stresserzeugende Gedanken bleibt. Ob das zusammensetzen eines Puzzles deswegen so wohltuend ist, weil es Achtsamkeit und Entspannung vereint? Danke lieber Rigobert für deine tiefgreifenden Worte. Sie werden mich sicher noch den ein oder anderen Moment begleiten.
Viele Grüße von Judith
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen
Toller Beitrag. Ich liebe jede Art von Entspannung und lese immer wieder gerne darüber. Auch gönne ich mir ab und zu mal eine Massage Bern. :)
Herzlichen Dank für den netten Kommentar! Ja, Entspannung ist eine Notwendigkeit. Gerade in der heutigen Welt stehen wir allzu oft unter Druck, z. B. durch Erwartungen von anderen oder durch Erwartungen, die wir selbst an uns haben. Zu all den spannungsreichen Umständen braucht es Entspannumng als Ausgleich, wie die Aktivitäten des Tages zum Ausgleich die Ruhe des Schlafes brauchen. Das ist wie Yin und Yang im Taoismus. Damit der Pegel der Anspannung nicht gar so sehr ausschlägt, ist Achtsamkeit eine sehr hilfreiche Haltung. Auch Yoga, mit dem wir in den Moment und in unsere Körperlichkeit kommen können, ist eine hilfreiche Übung. Yoga kann uns unter anderem auch lehren, dass wir auch in einer Anspannung (Yoga-Haltung) innerlich in gewisser Weise entspannt bleiben können. Im Rahmen des MBSR-Kurses nutzen wir übrigens auch Yoga-Übungen als Achtsamkeitsübungen.
Herzliche Grüße,
Rigobert
P.s.: Sorry, aber den Link zu einem Cannabis-Öl-Hersteller habe ich entfernt.
Vielen Dank für die sehr sinnreichen und bewegenden Worte. Es war sehr interessant Ihren Beitrag gelesen zu haben. Als Leser wurde mir noch viel zum Nachdenken auf dem Weg gegeben. Eine sehr schöne Sache, denn ich über was Gelesenes lange nachdenke, hat es mich wirklich im Innersten angesprochen. So gesehen ein Qualitätsmerkmal!
Meiner Meinung nach ist Entspannung vor allem in unseren aktuellen schnelllebigen Welt ein sehr schützenswerter Punkt geworden. In ständiger Eile kommen wir doch gar nicht mehr zur Entspannung, obwohl es so viele Wege gibt, um sich wirklich mal zu entspannen, oder nicht? Die einen entspannen bei einer heißen Tee und einem guten Buch, der andere bei einem ausgiebigen Spaziergang. Andere setzen auf biologische Öle von H. (Editiert: Produktlink entfernt, Herstellername gekürzt) beispielsweise. Und ich versuche es über Yoga.
Ich fand es auch sehr interessant von ihrer Mediation mit 18 Jahren zu hören. Sehr überwältigend. Vielen Dank dafür, dass Sie ihre Erfahrungen mit uns teilen!
MFG. :-)