Mit Achtsamkeit Richtung Freiheit?
Verhaltensmuster sitzen oft sehr tief in uns fest. Wieder und wieder tappen wir auf dieselbe Weise in altbekannte Fallen, finden uns in derselben Sackgasse wieder. Es scheint wie ein Fluch über uns zu kommen. Was geschieht da mit uns und wo ist der Ausweg? Kann Achtsamkeit uns eine Richtung in die Freiheit weisen?
Traumatische Erfahrungen und Verhaltensmuster
Vor einigen Wochen noch erreichten uns über die Medien viele Nachrichten und Berichte zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Wie auch andere traumatische Erfahrungen, kann ein Missbrauch das zukünftige Leben der Opfer derart prägen, dass sie auf ihrem Lebensweg mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. In einem TV-Bericht, den ich gesehen habe, erzählte eine Betroffene davon, dass sie infolge des Missbrauchs durch einen Geistlichen lange Zeit nur Interesse hatte an Beziehungen zu deutlich älteren Männern. Erst viel später konnte sie dieses Verhaltensmuster auflösen, so dass sie heute mit einem nur 4 Jahre älteren Ehemann verheiratet ist. Mich hat dieser Bericht berührt und daran erinnert wie sehr einschneidende Erfahrungen in unserem Leben über lange Zeit fortwirken können. Manchmal wirkt der lange Schatten tiefgreifender traumatischer Erfahrungen ein Leben lang. Das ist wahrlich erschütternd! Langjährige bis lebenslange Verlustängste nach dem frühen Verlust einer engen Bezugsperson, Panikattacken nach dem plötzlichen Tod von Menschen im eigenen Umfeld oder die fixe Vorstellung nicht wertvoll, nicht gut genug zu sein, weil man sich als kleines Kind Schuld gab an der Trennung der Eltern. Dies sind nur einige aus dem Leben gegriffene Beispiele für traumatische Erfahrungen und ihre Folgeerscheinungen.
Nicht wenige Menschen tragen das besagte Gefühl in sich, nicht gut genug zu sein, es nicht wert zu sein und Ähnliches. Nach außen wirkt es manchmal gar nicht so und man ist überrascht, wenn man davon erfährt. Wenn man in seinem Leben wenig Bestätigung erfährt, kann das auch zum Antrieb werden, immer perfekter werden zu wollen. Und doch macht man dann vielleicht wieder und wieder die Erfahrung, dass man es weder sich selbst, noch dem Gegenüber recht machen kann. Aufgrund prägender Erfahrungen entwickeln wir Verhaltensmuster wie den Perfektionismus und das Ganze bläht sich in unserem Leben mit der Zeit immer mehr auf. Sehr bemerkenswert ist, welche sich wiederholenden Effekte diese Verhaltensmuster generieren. Irgendwann kennen wir es zur Genüge und im Grunde wird alles mit der Zeit umso deutlicher. So deutlich, dass wir es nicht mehr übersehen können, weil es sich inzwischen in unserer Wahrnehmung wie ein Berg vor uns aufgetürmt hat.
Die Ganzheitlichkeit von Verhaltensmustern
Verhaltensmuster sind übrigens etwas Ganzheitliches. Da ist nicht nur etwas, das wir denken oder glauben. Es ist wie eine ganze Atmosphäre. Es sind subtile Empfindungen da, die mitschwingen jenseits von Denken und Glauben. Und es gibt dazu oft auch ein körperliches Äquivalent. Und so kann man z. B. in einem MBSR-Kurs (Achtsamkeitskurs nach Jon Kabat-Zinn) beim Austausch über die Körperwahrnehmungsmeditation „Body Scan“ auf Verhaltensmuster im Umgang mit Erfahrungen beim „Body Scan“ stoßen, die sich in ähnlicher Weise sogar im Verhalten auf der Beziehungsebene finden.
Wie Muster entsprechende Erfahrungen „anziehen“ …
Oft zielen Verhaltensmuster darauf ab, bestimmte Erfahrungen zu vermeiden. Verblüffend ist, wie sehr wir dabei diese eine ganz bestimmte unerwünschte Erfahrung im Blick haben. Wenn Gefahr besteht, dass uns eine solch unliebsame Erfahrung ereilen könnte, dann versuchen wir uns im Vorfeld abzusichern, versuchen alle Eventualitäten zu bedenken, um das missliebige Erleben irgendwie auszuschließen. Manche Menschen sind derart in einer Hab-Acht-Haltung, dass sie immerzu auf ihrem Radar haben, dass im nächsten Moment ein anderer Mensch etwas tun könnte, das wieder in dieselbe Kerbe haut oder dass etwas geschehen könnte, was sie verletzt und sie wieder in das alte Loch versinken lässt. Tatsächlich haben diese Menschen nicht Ohren die hören oder Augen, die sehen, sondern Ohren, die etwas ganz bestimmtes heraushören oder Augen, die sozusagen den Teufel an die Wand malen. Was versucht wird zu vermeiden, wird tatsächlich mit allen Sinnen derart fokussiert, dass es schließlich, vermeintlich oder wirklich auf der Bildfläche erscheint. Dies ist oft die Art und Weise wie Menschen bestimmte Erfahrungen „anziehen“. Muster sind im Übrigen meist reaktiv und drängen uns dann in eine Opferhaltung. Eine aktive, angemessene Haltung können wir innerhalb der Konstellationen eines solchen Musters nicht erkennen. Nein, die immer selben Erlebnisse werden geradezu provoziert. Eines dieser reaktiven Verhaltensmuster sieht man manches Mal bei Männern, dann wenn sie sich in ihrem Werben um eine Frau ganz an dieser orientieren, um ihr zu gefallen. Dabei vergessen sie dann, sich selbst wirklich zu zeigen und bleiben chancenlos. Nein, es wird nicht besser mit mehr Umgarnen und mit mehr zuvorkommendem Verhalten usw.. Das Prinzip dieser reaktiven Muster ist, dass wir stets in einem ganz bestimmten Setting verbleiben, ein Rahmen, den wir nicht verlassen. Und wir nehmen wieder und wieder die gleiche Rolle ein. Sehr oft ist es die Rolle des einstigen Kindes im Verhältnis zu seinen Eltern. Erziehung setzt viele Prägungen.
Muster haben ein bestimmtes Setting
Die meisten Verhaltensmuster sind reaktive Versuche, eine Lösung zu kreieren für bestimmte Anforderungen. Es ist wichtig zu begreifen, dass wir in diesen Mustern eine reaktive Haltung einnehmen, reagieren statt agieren. Wir geben den Gesetzen des musterhaften Settings Bedeutung und (re)agieren innerhalb dieses vermeintlich fixen Rahmens. Solche Verhaltensmuster sind keine freie, aktive Lebensgestaltung!
In den besagten Verhaltensmustern nehmen wir einen ganz bestimmten Part ein und lassen den Raum für eine komplementäre Komponente, die diesen Raum zu nutzen weiß. Nein, da kommt dann gewiss nicht zusammen, was zusammen gehört, sondern es treffen sich Gegenstücke, zwei in gewisser Weise komplementär miteinander verbundene Pole. Und das Puzzle unserer Muster wird immer wieder aufs Neue zusammengesetzt, kann aber nie ein anderes Bild ergeben. Immer dasselbe Setting, das seinesgleichen als Erfüllungsgehilfen anzieht.
Muster als sinnhafte Anpassung an das Leben
Und wir sind nicht etwa zu doof, um es einfach anders zu machen und auf ein anderes Verhalten umzustellen. Kindliche Missbrauchsopfer zum Beispiel können sich ja dieser speziellen Konstellation, die das spätere Verhalten provoziert, nicht einfach entziehen. Genauso wenig kann man sich in der Kindheit überhaupt Umständen entziehen, die die Eltern vorgeben. Es ist manchmal einfach nicht in unserer Kontrolle! Und unsere Reaktionen auf die Umstände sind mehr als nachvollziehbar, meist sind sie geradezu logisch und nicht anders erwartbar. Viele dieser Verhaltensmuster beinhalten in ihrer Entstehung sinnhafte Lebensanpassungen, gewissermaßen „Überlebensstrategien“, auch wenn es nicht immer ums Überleben geht. Die Crux ist halt, dass sich diese Strategien dann in der Zukunft fortsetzen, auch wenn die Umstände überhaupt nicht mehr dazu passen. Ein einfaches Beispiel: Ich habe in meiner Jugend das Rauchen begonnen, weil ich mir damit eine Gruppenzugehörigkeit erkaufen konnte. Ich wollte dazu gehören. Als ich aber schon längst, Jahre später und unter ganz anderen Umständen dazu gehörte, und zwar eben nicht wegen meines Rauchverhaltens, rauchte ich immer noch. Als ich das erkannte, erkannte ich die Absurdität meines Rauchverhaltens und konnte es infolgedessen umgehend beenden.
Etwas verändern. Aber wie?
Um reaktive Verhaltensmuster zu ändern „funktioniert es“ letztlich nicht, wenn wir unsere musterhafte Rolle nur besser und besser spielen. Wir spielen sie allenfalls nur mustergültiger. Eine Auflösung solcher Verhaltensmuster ist nur möglich, wenn wir das musterhafte Verhalten und das Setting insgesamt erkennen und Abstand dazu gewinnen. Muster sind wie Hypnosen, denen wir unterliegen. Wir sehen die Dinge durch eine bestimmte Brille und in einem bestimmten Rahmen. Doch die Lösung liegt eben nicht innerhalb des Rahmens der Problemkonstellation. So wie Albert Einstein sagte:
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“.
Achtsames Innehalten
Okay, wie wäre es mit Achtsamkeit im Umgang mit reaktiven Verhaltensmustern? Der Ansatz der Achtsamkeit ist immer, sich der Erfahrung zuzuwenden ohne zu bewerten. Das ist ein Schritt hin zur Wirklichkeit. Was geschieht da gerade? Wie ist es wirklich? Nur wahrnehmen, ohne das Wahrgenommene gleich per Interpretation mit irgendwelchen Adjektiven in Kategorien, sprich Schubladen einzusortieren. Und: Wir können unsere Verhaltensmuster bemerken! Das ist der erste Schritt. Tatsächlich bemerken doch die meisten Menschen ihre hartnäckigen reaktiven Verhaltensmuster. Sie merken, dass Ihnen immer wieder dasselbe widerfährt und sie mögen die Ergebnisse nicht. Wenn ich schon darum weiß, dann kann ich mir auch vornehmen, das Muster zu bemerken, wenn es auftaucht. Im Bemerken kann ich dann ganz bewusst wertfrei wahrnehmen, was in diesem Moment bei mir abläuft. Innehalten! Und durch das Innehalten verändere ich schon mein Verhalten, weil ich meine übliche automatische Verhaltensweise nicht einfach ausagiere. Ich gewinne stattdessen einen übergeordneten Standpunkt. An diesem Punkt ist Einsicht möglich. Und in diesem Moment kann ich zumindest wählen, wie ich reagieren möchte, auch wenn ich vielleicht nicht gleich eine gute Lösung oder Option für eine mögliche aktive Veränderung erkennen kann. Das ist die übliche Art und Weise der Achtsamkeit mit Herausforderungen („Stress“) umzugehen. Was wir dazu wissen müssen: Veränderung ist eher kein linearer Prozess ohne Rückschläge!
Reflexion und Einsicht
Nach meiner Erfahrung gibt es einen Katalysator für Verhaltensänderungen, etwas, das unsere Veränderungsmöglichkeiten beschleunigen kann. Es ist die Einsicht. Manchmal überkommt sie uns plötzlich, aber zumeist ist der Boden, auf dem sie gedeiht, die Reflexion. Wenn wir uns eines Verhaltensmusters bewusst geworden sind, können wir darüber nachdenken. Was ist das für eine Konstellation, in die ich da immer wieder hinein gerate? Den Rahmen erkennen! Was geschieht innerhalb dieser Konstellation mit mir? Welche Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen oder gar Körperhaltungen und Verhaltenstendenzen kommen dann auf? Nächste Frage: Gibt es gute Gründe, warum das bei mir aufkommt? Und schließlich: Muss man es tatsächlich so sehen, wie ich es sehe? Könnte jemand anderes vielleicht ganz andere Schlüsse ziehen? Wie könnte jemand, der nicht auf bestimmte Dinge, auf die ich sensibel reagiere, anders reagieren? Was sehe ich, was es mit mir macht, wenn ich gemäß meinem Verhaltensmuster denke und an das glaube, was mir das Verhaltensmuster vorgaukelt? Welche Begrenzungen erlege ich mir selbst auf, wenn ich an die Gesetze des musterhaften Rahmens glaube? Manche von diesen Fragen ähneln in gewisser Weise den Fragen, wie sie auch Byron Katie für ihr „The Work“ formuliert hat. Da wird gefragt, ob es wahr ist, was wir glauben, ob wir uns da wirklich sicher sein können. Es wird gefragt, welche Reaktionen wir feststellen, wenn wir so denken und glauben. Und schließlich ist da noch die Frage, wer ich wäre ohne diese Gedanken. Wer wäre ich also ohne diese Geschichte, die ich mir erzähle? Wer wäre ich ohne diesen Rahmen, in dem ich glaube, reagieren zu müssen?
Du bist nicht Dein Muster!
Wenn wir über unsere Verhaltensmuster reflektieren, dann ist es gut, sich bewusst zu machen, dass wir nicht das Muster sind. Wir sind viel mehr und haben vielerlei Facetten. Es ist am Besten, das Muster nur zur Kenntnis zu nehmen. Jede besitzergreifende Identifikation damit im Sinne „Ich habe das Muster XY“ ist kontraproduktiv. Das bestätigt und bestärkt das Muster und schafft eine persönliche Bindung daran. Ich denke, es leuchtet ein, dass hier Vorsicht geboten ist.
Veränderung ist die Natur des Lebens!
Noch etwas zum Schluss: Es liegt in der Natur von (Verhaltens)Mustern, dass sie eine fixe Struktur haben. Sie wiederholen sich, weil wir uns wiederholen. Wir sind es, die daran festhalten. Hinter den Mustern verbirgt sich eine fixierte persönliche Sichtweise und Denkweise, eine Haltung, die wir überprüfen sollten. Tatsächlich sind wir davon wie hypnotisiert. Wir können uns nicht vorstellen, dass es andere Möglichkeiten gibt, Optionen außerhalb unserer fixen Haltung. Doch es gibt viele Perspektiven, wie man die Dinge sehen und erfahren kann. Wollen wir unsere reaktiven Verhaltensmuster überwinden, brauchen wir die Einsicht, wie wir uns in unserer musterhaften Haltung selbst begrenzen und fixieren. Im Unterschied dazu ist das Leben selbst in ständiger Veränderung. Das ist sein Wesen. Alles Fixe ist deshalb vergänglich, muss vergehen. Und ja, es ist möglich vom Festhalten zum Loslassen zu gelangen. Freiheit ist möglich und achtsames Innehalten öffnet dazu einen Raum.
Liebe Sandra,
herzlichen Dank für Deinen netten Kommentar. Freut mich, dass Dir der Beitrag gefällt!
Liebe Grüße,
Rigobert
Toller Beitrag. Gefällt mir :)
LG
Sandra