Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Im Auge der Achtsamkeit: Gefühlsausbrüche
Wenn kleine Kinder etwas nicht bekommen, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen oder wenn sie sich weh tun, dann kommt es bei ihnen manchmal zu heftigen Gefühlsausbrüchen mit lautem Weinen und Aufschreien. Auch Erwachsene haben Emotionen, in aller Regel sind ihre Reaktionen darauf allerdings weit weniger vernehmlich und manchmal von außen kaum wahrnehmbar. Das ist ein erheblicher Unterschied im Umgang mit plötzlich aufwallenden Gefühlen. Es stellt sich die Frage, wie denn ein gesunder Umgang mit derartigen Gefühlen aussehen mag. Kontrollieren? Regulieren? Freien Lauf lassen? Was offenbart ein achtsamer Blick auf „Gefühlsausbrüche“?
Fragwürdiges
Wir sollten werden wie die Kinder, das hat Jesus Christus empfohlen. Bei Gefühlsausbrüchen also laut aufschreien, vielleicht sogar um sich schlagen? Oder führt die Aussage, so verstanden, in die Irre und wir sollten doch lieber Gefühle unterdrücken, kontrollieren und „regulieren“? Fakt ist, dass der „normale“ Erwachsene oft recht gut gelernt hat, Gefühle sofort beim Auftauchen in einer bestimmten Art und Weise weg zu regulieren. Diese Selbstkontrolle ist tatsächlich so effizient, dass viele Menschen gar den Eindruck haben, sie würden nichts fühlen oder sie seien gefühlsmäßig nur wenig berührt. Ja, so stark sind beim „normalen“ Menschen die Filter, die aktiv werden, wenn Gefühle aufwallen. Jedenfalls ist das meine Hypothese aufgrund meiner Erfahrungen und Beobachtungen. „Männer weinen nicht“, also weinen Männer nicht, nur ein Beispiel. Oft sind wir in der Tat so sehr kontrolliert, dass wir gar nicht mehr weinen können, auch wenn wir es wollten.
Ein Leben mit Filter
Die minimierte, weil regulierte Wahrnehmung unserer Gefühlswelt unterscheidet sich wenig von der Art und Weise unserer sonstigen Wahrnehmung. Fokussiert auf die vermeintlich wichtigen Themen unserer momentanen Lebensumstände, nehmen wir oft sehr wenig wahr, was dieser eine gegenwärtige Moment an Eindrücken für uns bereit hält. Das Schöne am Wegesrand gelangt nicht durch den Filter, es wird sozusagen wegfokussiert. Die Vielfalt von Geschmacksnuancen unserer Mahlzeiten erreichen nicht unser Bewusstsein, da unsere Aufmerksamkeit gerade bei manch einer Geschichte, bei zu erfüllenden Erwartungen und beim Planen verweilt. Und dann: „Ach, habe ich jetzt den Beilagensalat schon aufgegessen? Ich weiß gar nicht, wie der eigentlich geschmeckt hat.“ Ähnlich ergeht es uns mit unseren Gefühlen. Unsere Programmierung, sprich unsere Einstellung, filtert viele Gefühle gleich ab und all die anderen Dinge, die gerade vermeintlich wichtiger sind, tun ein Übriges.
Gefühle und Achtsamkeit
Im Sinne der Achtsamkeit dürfen Gefühle, die auftauchen da sein, so wie sie sind. Wir sind uns einfach ihrer bewusst und nehmen wertfrei wahr, wie unsere Erfahrung damit ist. Es gibt eigentlich nichts weiter zu tun. Im Grunde ist das kein wirkliches Umgehen mit einem Gefühl, sondern nur offenes Erfahren ohne ein Bewerten. Wenn es um Stress geht, bei dem freilich so manches eindrückliche Gefühl über uns hereinbricht, dann ist die Sicht der Achtsamkeit zudem die, dass wir durch das bewusste, also wache, wertfreie Wahrnehmen dessen, was ist, eine Situation bereits verändern, weil wir aus der unbewussten automatischen Reaktivität heraustreten. Wir lassen uns also nicht einfach vom refelexartigen Reagieren überwältigen. In der automatischen und unbewussten Reaktivität sind wir gleichsam wie hypnotisiert oder wie in einem Tunnel mit ebenso eingeschränkter Wahrnehmung. Ein Aspekt, der im Zusammenhang mit einem achtsamen Hiersein im Stress immer wieder hervorgehoben wird, ist, dass sich durch das bewusste, gegenwärtige und wertfreie Erfahren für uns die Möglichkeit eröffnet, unsere Reaktion bewusst zu wählen. Selbstbestimmung statt reaktiver Automatismus.
Bedeutet Achtsamkeit, Emotionen zu regulieren?
Auf die Kurzformel gebracht: Wenn wir uns bewusst sind, was wir gerade tun, dann können wir auch bewusst etwas anderes tun. An diesem Punkt wird es wirklich interessant, bedeutet es doch, dass wir bewusst regulierend in unsere Gefühlsäußerungen eingreifen. Es ist nicht dieselbe Kontrolle, wie wenn wir versuchen, missliebige Gefühle zu unterdrücken. Und doch ist es eine subjektive regulierende Steuerung. Das wiederum scheint zusammen zu passen mit gewissen Forschungsergebnissen zu Achtsamkeit. Bei Teilnehmern von MBSR-Kursen hat man per Kernspintomogram festgestellt, dass es in einer bestimmten Hirnregion einen Zuwachs an grauer Substanz gibt. Die Region ist unter anderem zuständig für die Regulation der Erregung in emotionalen Situationen. Ist Achtsamkeit demzufolge ein Instrument um Emotionen zu regulieren? Es scheint an dieser Stelle so, aber möglicherweise ist das einfach nur eine Fehlinterpretation. Wohlgemerkt, es ist die Wissenschaft, die ihren Befund im Sinne einer regulativen Kompetenz interpretiert. Zudem versteht es sich von selbst, dass Emotionen nicht weiter gepusht und damit vergrößert werden, wenn sie einfach nur wertfrei erfahren werden. Wenn wir Erfahrungen durch unsere einseitige Interpretation und unseren Widerstand zu etwas Schlimmem hochstilisieren, dann schaukeln sich Emotionen in einer Steigerungsspirale ungebremst auf. Wenn wir achtsam sind, wenden wir diesen Interpretationsturbo nicht an und gehen nicht in Widerstand gegen unsere Erfahrungen. De facto findet durch Achtsamkeit nicht wirklich eine Regulation von Emotionen statt, sondern Emotionen bleiben auf dem Ausgangslevel und klingen irgendwann von selbst ab. Es ist jedoch etwas anderes, wenn wir aus der Bewusstheit der Achtsamkeit heraus ein anderes Verhalten wählen. Das sieht schon sehr nach einer subjektiven Regulation aus.
Gefühlsausbrüche bei intensiverer Achtsamkeit
Nehmen wir an, es gelingt uns, viel von unseren Filtern fallen zu lassen. Gemeint sind all die Vorstellungen davon, wie wir uns verhalten müssen, wie „man“ dies und jenes zu tun hat, was „man“ nach außen zeigen darf oder sollte und was nicht, usw.. In der Konsequenz sind wir dann auf eine natürliche Weise in unserem Verhalten freier und einfach so, wie wir eben sind. Sein wie die Kinder im Sinne von Jesus Christus. Wer das einmal zumindest kurzzeitig erfahren hat, der kann dabei auch etwas Erstaunliches beobachten: Wenn Emotionen aufflammen, dann kann das ungewohnt „heftig“ ausfallen, zumindest intensiver als wir das gemeinhin gewohnt sind. Ein Leben ohne Filterung. Und deshalb wird dann, was da ist, deutlicher wahrnehmbar. Die ganzen Schleier fallen weg. Ich spreche hier von einer Erfahrung, die ich selbst gemacht habe. Da man ja aus der Vergangenheit anderes gewohnt ist, erschreckt man fast etwas über sich selbst ob dieser Unmittelbarkeit, mit der Emotionen in uns ausbrechen können und sich Ausdruck verschaffen. Ja, es ist ähnlich wie bei Kindern, die sich naturgemäß noch nicht ein derartiges Filtersystem angeeignet haben wie „normale“ Erwachsene. Das ist übrigens nicht nur eine Erfahrung von mir. Ich kenne derartige Beschreibungen auch von anderen Menschen, die in einem achtsamen Sinn eine besondere Persönlichkeitsentwicklung erfahren haben. So intensiv wie diese Gefühlsausbrüche auch kommen mögen, genauso unmittelbar können sie wieder verschwinden! Es gibt kein Festhalten! Wenn wir nicht so sehr um unser Verhalten bemüht sind, dann haben wir sozusagen nicht unsere Hände dran und nichts bleibt kleben. Was nicht reguliert und gehalten wird, kommt dann unmittelbar auf und vergeht genauso unmittelbar wieder. Eben genauso wie Kinder von heftigem Weinen urplötzlich in der Stimmung umschalten können, wenn etwas anderes ihr Interesse weckt. Es ist indes nicht so, dass man sich vor derartigen unmittelbaren „Gefühlsausbrüchen“ fürchten muss. Sie mögen zwar eine gewisse Intensität haben, sind aber dennoch, wie ich meine, harmlos. Wenn Gefühle sich unmittelbar zeigen dürfen und eben nicht über lange Zeit unterdrückt werden, dann kommt es auch nicht zu heftigen Explosionen. Wenn sich Gefühle durch Verdrängen und intensives Regulieren aufgestaut haben, dann können die Entladungen tatsächlich einen bedrohlichen und sehr unberechenbaren Charakter annehmen. Freilich können auch die „natürlichen“ Gefühlsausbrüche eines vielleicht sehr achtsamen Menschen einen gewohnten Rahmen verlassen und beim Umfeld mindestens Verwunderung auslösen. Ich denke aber, dass das Umfeld durchaus spürt, wie diese Emotionen dann einzuordnen sind. Also: Ein achtsamer Mensch ist nicht zwingend immer nur sanft wie ein Lamm und es ist dann kein Zeichen von Unreife, wenn Emotionen unmittelbar zum Ausdruck gelangen.
Wie sich die Widersprüche auflösen
Es erscheint widersprüchlich, wenn per Achtsamkeit gleichsam subjektiv regulierend ein anderes Verhalten gewählt wird und infolgedessen z. B. von gewissen Emotionen abgelassen wird. Das natürliche Menschsein wie ein Kind erscheint zumindest für mich demgegenüber auf den ersten Blick eher achtsam. Aber wenn wir uns daran erinnern, wie schnell Kinder bei heftigen Emotionen manchmal umschalten können, dann erkennen wir eine Parallele. Wenn wir per Achtsamkeit in bestimmten Situationen ein anderes Verhalten wählen, dann gewinnt einfach etwas anderes für uns eine höhere Attraktivität. Ja, ich bemerke, dass ich auch anders kann und das scheint deutlich attraktiver. Also schalte ich um. Ich denke, auch bei einem Kind kann in der heftigsten Emotion plötzlich etwas attraktiver erscheinen als die momentane Gefühlsäußerung und es kann unmittelbar umschalten. Achtsamkeit ist wertfrei erfahrend, bewusst wahrnehmend und daher eigentlich nicht regulierend. Wir sehen aber, es ist wohl nur ein vermeintlicher Widerspruch, wenn wir per Achtsamkeit unsere Reaktion bewusst wählen und gleichsam in unseren vermeintlich natürlichen Gefühlsausdruck eingreifen. Es ist wohl eher ein Prozess der Einsicht, der dann stattfindet und der in einem natürlichen Umschalten mündet. Könnte ich auch anders? Ja, ich kann … ohne es zu müssen. Wenn wir sehr achtsam sind und Gefühle scheinen unvermittelt aus uns hervor zu brechen, dann sind das vielleicht nicht wirklich Gefühlsausbrüche. Es scheint uns vielleicht nur so, weil wir Gefühle derart ungefiltert nicht gewohnt sind. In Wahrheit haben Gefühle, wie ich denke, einfach von Natur aus eine gewisse Intensität. Vollgepfropft mit all dem, was man soll, was man muss und was man darf oder nicht darf, verkennen wir die natürliche Intensität von Gefühlen vielleicht einfach nur als vermeintlich unnormal.
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