Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Die Person und die Selbstliebe
– Teil 2 –
Was ist Selbstliebe wirklich? Um was geht es dabei? Und wozu sollen wir uns überhaupt selbst lieben? Eine besondere Rolle im Zusammenhang mit Selbstliebe spielt unser für mich merkwürdiges Verhalten, uns von einer inneren Instanz aus immer wieder selbst zu betrachten und zu bewerten. Etwa 80 % der Menschen, so war vor einiger Zeit in „moment by moment“ zu lesen, kämpfen dabei mit einem inneren Kritiker. Es liegt auf der Hand, dass dies den positiven Selbstbezug stark beeinträchtigt. Ist es nicht merkwürdig, wie wir bei diesem Verhalten unsere Einheit aufspalten in eine Subjekt-Objekt-Beziehung? Ein Anteil in uns kritisiert einen scheinbaren anderen Teil. Und bei der Selbstliebe soll nun ein Teil in uns einen anderen Teil, oder was auch immer, lieben? Wer soll denn da eigentlich wen lieben? Fragen über Fragen.
Eine Projektion von uns selbst lieben?
Im ersten Teil zum Thema „Selbstliebe“ ging es vor allem um unser Selbstbild oder Selbstverständnis, auf dem wir in der Regel unsere Person gründen. Wir kreieren dabei ein Bild von uns, eine Definition, die tatsächlich niemals unser ganzes Sein erfassen kann. Wir sind nicht diese Abstraktion unserer selbst! Zudem werden wir, wenn wir uns damit identifizieren, abhängig vom Wohl und Wehe äußerer Einflussfaktoren, beispielsweise von der Meinung anderer. Kann es für die Selbstliebe wirklich einen Sinn ergeben, diese Projektion von uns selbst zum Zielobjekt unserer Liebe zu machen? Ginge das nicht irgendwie ins Leere?
Was ist Selbstliebe?
Man merkt an dieser Stelle schon, dass man sich wohl nicht ernsthaft mit der Frage befassen kann, wie wir uns selbst lieben können und was wir dabei lieben sollen, wenn wir nicht grundsätzlich verstehen, was Selbstliebe überhaupt ist.
Selbstliebe ist eine Form der Liebe, weswegen wir vielleicht gut beraten sind, uns als erstes die Frage zu stellen, was Liebe ist. Das sagt Wikipedia: „Nach engerem und verbreitetem Verständnis ist Liebe ein starkes Gefühl, mit der Haltung inniger und tiefer Verbundenheit zu einer Person (oder Personengruppe), die den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt und sich in der Regel durch eine entgegenkommende tätige Zuwendung zum anderen ausdrückt.“ Innige und tiefe Verbundenheit, auch mir wäre das zum Begriff Liebe als erstes eingefallen. Was sagt das über Selbstliebe? Die Liebe zu uns selbst ist demzufolge die innige und tiefe Verbundenheit zu (mit!) uns selbst! Aha, wer hätte gedacht, dass die Antwort auf die Frage, was Selbstliebe ist, sich so einfach herleiten lässt? Selbstliebe ist also nichts anderes als mit sich selbst in engem Kontakt zu sein. Und natürlich ist der innigste Kontakt, eins zu sein mit sich selbst.
Wie die Einheit des Selbst verloren geht …
Im Bewusstsein dieses Verständnisses von Selbstliebe wirkt die innere Aufspaltung, die wir wieder und wieder in uns aufleben lassen – Stichwort „innerer Kritiker“ – umso merkwürdiger. Nicht nur der „innere Kritiker“, sondern dieses innere Aufspalten selbst, macht sich so gesehen sehr verdächtig, der Selbstliebe im Weg zu stehen. Der „innere Kritiker“ steht der Selbstliebe eindeutig im Weg, schließlich untergräbt er mit seinen Vorwürfen und Nörgeleien die wirkliche Verbundenheit mit uns selbst, sprich unsere Einheit. Die innere Einheit kommt uns indes mit jeder ich-spaltenden Subjekt-Objekt-Beziehung, die wir in uns schaffen, abhanden, selbst dann, wenn aus Selbstbetrachtungen positive Bewertungen resultieren. Ist es unter diesem Gesichtspunkt nicht etwas abstrus, wenn Selbstliebe immer nur im Rahmen einer inneren Subjekt-Objekt-Beziehung gesehen wird?
Das Ich-und-Ich beim Selbstmitgefühl
Diese Ich-und-Ich-Beziehung gibt gleichermaßen den grundsätzlichen Betrachtungsrahmen vor, wenn es um das für die Achtsamkeit sehr gewichtige Thema Selbstmitgefühl geht. Ein Ich in mir soll einem scheinbar anderen Ich in mir mit Mitgefühl begegnen? Mitfühlend Kontakt aufnehmen mit sich selbst indem man zuerst eine Aufspaltung seiner selbst in eine Subjekt-Objekt-Beziehung vornimmt? Der innigste Kontakt ist doch die Einheit und gerade sie geht in diesem Betrachtungsrahmen über Bord! Ich weiß, meine Ausführungen sind ketzerisch. Sie hinterfragen in der Tat die eine oder andere grundsätzliche Annahme der Achtsamkeitspraxis und auch der Forschung dazu.
Selbstliebe und Selbstmitgefühl. Ich-und-Ich-Beziehung versus Subjekt-sein
Ich will hier allerdings nicht in Abrede stellen, dass z. B. Selbstmitgefühl, das innerhalb dieses inneren Subjekt-Objekt-Bezugsrahmens praktiziert wird, wirkungsvoll ist. Nein, das ist wissenschaftlich bestätigt. Aber ich glaube, echte Selbstliebe, die Verbundenheit mit sich selbst, kann noch direkter und inniger sein. Was, wenn es einfach darum geht, eins zu sein mit sich selbst? Einfach nur direkt erfahren, welche Bedürfnisse ich habe, was mich gerade schmerzt, usw.. Das Subjekt sein. Wissen, was gerade los ist, weil ich das bin und ich es z. B. gerade so spüre. Tun, was mir wirklich wichtig und ein Bedürfnis ist. Unmittelbar ich selbst sein, statt mich selbst lieben oder Mitgefühl für mich selbst haben. Es geht hier nicht darum, wie gut das manchmal umsetzbar sein mag. Es geht um die Sichtweise, um die Richtung, in die wir uns bewegen.
Bedingungslose Wesenseigenschaften
In meinen Augen ist wahre Selbstliebe ein unmittelbares Ich-Selbst-Sein. Langer Rede kurzer Sinn. „Woher kommt dann dabei die Liebe?“ mag man sich fragen. Ich glaube, es ist so, wie ich es schon einmal in meinem Beitrag „Das grundlose Glück der Achtsamkeit“ beschrieben habe. Glück ist eine Eigenschaft von uns. Sie zeigt sich von allein, wenn Störfaktoren aus dem Weg geräumt sind und wir z. B. still und wertfrei im Moment und bei uns ankommen können. Ebenso können Gefühle von Verbundenheit und Wohlwollen aufkommen, wenn wir wirklich wir selbst sind. Nicht nur Glück, sondern auch Liebe und Mitgefühl gehören zu unserem innersten Wesen. Und wenn wir ganz bei uns sind, eins und stabil, tritt all das von alleine zutage. Und in unserer Authentizität strahlen wir diese Wesenseigenschaften dann aus. Im Sinne dieses Verständnisses geht es nicht darum, Selbstliebe oder Selbstmitgefühl zu entwickeln. All das ist schon da, die Barrieren müssen nur weggeräumt werden, der Raum zur Entfaltung muss gegeben sein.
Blockaden
Das ist keine Theorie, sondern meine Erfahrung. Als Kind z. B. war ich meist noch recht natürlich. Ich habe oft dem, was da war, erlaubt, da zu sein. Und so habe ich oft einfach nur aus Rührung geweint. Mein Herz konnte spontan auf bestimmte Erfahrungen reagieren. Ist es nicht so, dass wir derartige Reaktionen in uns auch heute noch vielfach wahrnehmen können? In der Regel werden sie aber sofort unterdrückt. Man kann gewissermaßen gar nicht so schnell wahrnehmen, wie automatisch unterdrückt wird. Wir wollen nicht öffentlich Gefühle zeigen, usw.. Wir haben gelernt, uns gesellschaftskonform zu verhalten und es ist uns zu einer Gewohnheit geworden, zu einem Automatismus. Und so sind wir ständig unbewusst damit befasst, uns selbst zu regulieren. Unterdrückung hier, Unterdrückung da. Aus diesem Stoff sind die Barrieren, die (Selbst)Liebe und Mitgefühl ausbremsen. Wohlgemerkt, ein gewisses Maß an Selbstregulation braucht es für ein menschliches Miteinander. Die meisten von uns leiden aber an einer inneren Überregulation, die oft auch den Ausdruck unseres einzigartigen Wesens sehr weitgehend unterdrückt.
Heilmittel Achtsamkeit
Wenn wir auf natürliche Weise wir selbst sind, ist im allgemeinen ganz automatisch auch Vitalität, Positivität und Freude da. Wir sind schlicht in einem selbstbelohnenden Zustand. Das kann uns mutig unseren Weg gehen lassen und kann eine gute Voraussetzung für Erfolg sein. Doch bei uns selbst zu sein bedeutet manchmal auch, die unangenehmen Erfahrungen und Gefühle nicht zu verdrängen. Wenn Leid da ist, ist Leid da. Selbstliebe bedeutet dann, um das Leid zu wissen, sein Vorhandensein anzunehmen und es zu spüren. Mit einer erlaubenden Haltung, die weiß, dass das Leben nun mal so ist, können wir das ertragen und bei uns bleiben. Der Verlust einer natürlichen Selbstliebe, von (Selbst)Mitgefühl, von Selbstwert und Selbstvertrauen rührt einzig und allein aus einer irrigen Sicht auf die Welt, auf das Leben, auf uns. Die Dominanz falscher Vorstellungen entfernt uns von uns selbst. Achtsamkeit ist hier ein wertvolles Heilmittel. Achtsamkeit wendet sich ganz real und wertfrei dem zu, was wirklich da ist, jenseits der Vorstellungen.
Es sich gut gehen lassen
Wenn es um Selbstliebe geht, liest man oft Ratschläge von der Art „Gönn‘ Dir was“ oder „Lass es Dir gut gehen!“. Das kann dazu verführen, es sich mit x-beliebigen Dingen vermeintlich gut gehen zu lassen. Wirklich gut geht es uns jedoch dann, wenn wir Dinge tun, in denen wir uns wiederfinden. Etwas, das uns zu wahrem Selbstausdruck verhilft. Wie gesagt, echte Selbstliebe ist in meinen Augen ein Ich-selbst-sein. Und deshalb geht es eben nicht darum, es sich mit irgendwas x-beliebigen gut gehen zu lassen. Derartige Ratschläge sind daher mehr irreführend als zielführend. Ja, es ist sogar oft eine Herausforderung, zu sich selbst zu stehen und sich treu zu bleiben. Dabei begegnet man oft Widerständen. Es ist ähnlich wie beim Flow-Zustand. Auch der Flow, den ich für einen vollendet achtsamen Zustand halte, braucht als Voraussetzung eine gewisse Herausforderung. Manchmal haben wir das Bedürfnis nach Ruhe, Entspannung, Erholung, das Bedürfnis, uns quasi in eine Hängematte zu legen. Meist ist Selbstliebe im Sinne eines Ich-selbst-sein aber kein Hinlegen in die Hängematte, sondern eine herausfordernde Aktivität.
Wozu Selbstliebe?
Zu guter letzt bleibt noch die Frage „Wozu sollen wir uns überhaupt selbst lieben?“. Egal, ob wir Selbstliebe im Rahmen einer Subjekt-Objekt-Beziehung praktizieren oder im Sinne eines Ich-selbst-sein, es fühlt sich einfach besser an. Wenn wir wirklich wir selbst sind, dann fühlen wir uns angekommen, erfüllt und befriedigt. Und, wie gesagt, es strahlt aus. Es kann uns erfolgreich sein lassen und attraktiv erscheinen lassen. Und natürlich wollen wir das! In dem Sinne, wie ich Selbstliebe verstehe, würde ich indes gar nicht von Selbstliebe sprechen, sondern von Eissein oder in Einklang sein mit sich selbst. Kurzum: Selbstliebe ist, wenn ich mir erlaube, ich selbst zu sein.
In „Die Person und die Selbstliebe – Teil 3“ geht es etwas mehr um die Praxis, also darum, wie wir mehr in Einklang mit uns selbst kommen können und unseren Bedürfnissen entsprechen können.
Die verschiedensten Normen, angeblichen Regeln und vermeintlichen Anforderungen werden von außen an uns heran getragen, insbesondere in der Kindheit. Von diesen „Anleitungen“ übernehmen wir so manches. Es ist dann in uns selbst, gewinnt für unser Handeln und unsere Selbstregulation eine gewisse Relevanz. Es bedarf einiger Einsicht und Mühe, das dann wieder loszuwerden. Tatsächlich werden wir vom Umfeld auch in bestimmte Schubladen gesteckt, gewissermaßen mit einem Label versehen, das uns angeblich beschreibt. Weichen wir von diesen Labeln ab, dann treffen wir auf Unverständnis unseres Umfelds. Dann verstehen wir den Bibelspruch „Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande“. Und zu guter letzt gibt es dann noch schier unauflösbare Lebensumstände, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt. Manchmal hat man die Möglichkeit durch einen Ortswechsel den einschränkenden Umständen zu entkommen, ja. Ich sehe es auch als sinnvoll an, gegebenenfalls ein schädliches Umfeld zu verlassen. Doch das ist nicht immer möglich. Es kann sein, dass man in schier unauflösbaren Verpflichtungen (z. B. Familie) verstrickt ist, wo man bei einem Verlassen liebe Menschen im Stich lassen würde. An einem solchen Punkt kann uns die Nächstenliebe oder das Mitgefühl geradezu gefangen nehmen. Sehr schwierig. Man kann auch in einer tatsächlichen Gefangenschaft sein, in einer Diktatur leben, usw.. Nicht immer kann man dieses Umfeld verlassen. Was bleibt dann? Nicht aufgeben, so gut bei sich bleiben wie nur möglich, sich treu bleiben und Chancen nutzen. Das ist dann die Selbstliebe, die wir noch leben könen.
Herzliche Grüße,
Rigobert
,.. es ist dein Umfeld der dich runterzieht mit seinen in der Vergangenheit stecken gebliebenen Gedanken.
Manchmal, zumindest bei mir hat ein Ortswechsel geholfen.
Grüße
Meli