Bedingungen, Konsequenzen und die Freiheit der Achtsamkeit
Wenn wir den gegenwärtigen Moment in einer achtsamen Weise ganz wertfrei und zugewandt erfahren können, dann ist dies eine Erfahrung von Offenheit und Weite, von Freiheit, Ausgeglichenheit und vielleicht auch von Glück. Diese Erfahrung kann einen ganz eigenen Zauber entfalten. Probleme tauchen bei einer solchen Haltung nicht auf, denn das wiederum ist nur möglich, wenn wir Erfahrungen bewerten und in einen bestimmten Zusammenhang stellen. Doch Letzteres tun wir nur allzu oft. Wir lassen uns beherrschen von vermeintlichen Bedingungen und kreieren oft selbst bestimmte Bedingungen, die unsere Freiheit erheblich begrenzen, unsere Handlungsfähigkeit beschränken und uns gerne mal erheblich in eine Zwickmühle bringen. Dass das tatsächlich so ist und welche enormen Auswirkungen es auf uns hat, ist den wenigsten bewusst.
Unvoreingenommene Kinder
Als Kinder sind wir in gewisser Weise wie ein unbeschriebenes Blatt. Wir nehmen die Welt oft so, wie sie ist. Die Erfahrungen, die wir erleben, haben im Vornherein keine besondere Bedeutung für uns. Wie auch? Da Kindern die Lebenserfahrungen fehlen, können sie das, was sie erleben, nicht in bestimmte Zusammenhänge stellen. Sie bleiben viel öfter unvoreingenommen und begegnen der Welt nicht mit der Bewertungsbrille. Und so ist das Erlebte interessant, die Welt scheint ein unendliches Maß an interessanten und vielfältigen Erfahrungen zu beinhalten. Die Welt wirkt riesengroß, die Zeit vergeht langsam und fühlt sich unendlich an, das Leben ist irgendwie eine Art Wunder. Ja, und Wunder erscheinen einem Kind gewiss möglich. Achtsamkeit, diese offene und nicht bewertende Haltung, dieses in der Gegenwart leben, ist etwas, das Kinder noch vielfach auszeichnet. Eine natürliche Achtsamkeit. Als Erwachsene müssen wir uns den Zugang zur Achtsamkeit in der Regel wieder neu erarbeiten, etwa mit Hilfe eines MBSR-Kurses. Sich als Erwachsene in Achtsamkeit zu üben ist auf diesem Hintergrund auch ein Versuch des Werdens wie die Kinder.
Umstände und Prägungen
Nun, Kinder entwickeln sich. Und es ist gewiss nicht unerheblich unter welchen Bedingungen Kinder aufwachsen. Gerade Deutschland ist ja ein Land, in dem die Herkunft von Kindern gemäß Studien sehr stark darüber entscheidet, in welcher Schicht sie sich dereinst als Erwachsene wiederfinden. In der Regel verbleiben wir in Deutschland überwiegend ein Leben lang in derselben Schicht. Es gibt Länder, in denen Statusveränderungen im Leben einfacher zu erreichen sind. Hierzulande sind diesbezüglich sogenannte bildungsferne Schichten ein Thema und Bildung gilt verheißungsvoll als eine Art Schlüssel für einen Aufstieg. Lebensbedingungen spielen für unser Werden auf jeden Fall eine große Rolle, sie haben Konsequenzen. Andererseits sind wir Individuen mit einer ureigenen DNA. Auch das ist eine Prägung, eine Bedingung. Wir haben, wie man aus unserer DNA ersehen kann, bestimmte Dispositionen für gewisse Krankheiten oder eine Veranlagung zu anderen Merkmalen. Gewiss haben wir auch unsere eigene psychische Veranlagung, die sich dann natürlich mit den Umwelteinflüssen vermischt. Auch unsere ureigene innere Prägung, unsere DNA ist demnach etwas, das bestimmte Bedingungen für uns mitbringt. Auch das bestimmt also unser Leben mit.
Karma: Ursache und Wirkung
Viele Menschen in dieser Welt glauben auch an ein Karma. Demzufolge sind uns bestimmte Lebensumstände und Lebenserfahrungen aufgrund vergangener Leben bestimmt. Hier geht man also von Bedingungen aus, die auf uns wirken und noch weitaus umfangreicher sind als bloß unsere gegenwärtigen Lebensumstände und unsere DNA. Aber auch ohne ein Karma erscheinen die besagten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bereits gewaltige Leitplanken zu sein, die sehr stark in Richtung auf bestimmte persönliche Lebensumstände tendieren.
Bedingte, kleine Welt
Aber damit nicht genug … . Tatsächlich macht jeder Mensch seine eigenen (Lern-)Erfahrungen, die seine Sicht auf die Welt ganz spezifisch färbt. Wir erzählen uns dann, dass die Welt soundso sei. Wir haben tausend Schubladen, in die wir unsere Erfahrungen und andere Menschen einordnen. Und ja, nicht etwa nach objektiven Kriterien, sondern nach ganz subjektiven Kriterien, eben gemäß unseren Erfahrungen. Und denken wir nur daran, wie sehr wir zum Verallgemeinern neigen. Wir leiten gerne mal aus der Art einer einzigen Erfahrung ab, wie es angeblich im Allgemeinen ist. Alles wird da über einen Kamm geschoren. Die Welt wird, durch diese individuelle Bewertungsbrille gesehen, zu unserer eigenen ziemlich kleinen Welt. Das geht so: Vielleicht haben wir gelernt, dass man dies oder das nicht tut. Wir haben gelernt, wie man sich angeblich verhält. Der Mainstream der Meinungen prasselt auf uns ein und wir übernehmen vielleicht ohne Hinterfragen viele allgemeine Sichtweisen. Wir lehnen eine bestimmte Art von Menschen vielleicht bewusst oder unbewusst ab, weil wir mit einem ähnlichen menschlichen Exemplar schlechte Erfahrungen gemacht haben. Können Sie sich vorstellen, wie sehr all diese konstruierten Zusammenhänge und Bedingungen, unsere Wahrnehmung beeinträchtigen und uns so vieles nur in einem ganz bestimmten eng gezogenen Rahmen sehen lässt? Ja, so wird unsere Welt klein, indem wir nicht mehr über unseren Tellerrand hinaus sehen. Und wir wiederholen uns dabei, weil wir immer wieder dieselben Verhaltensmuster abspulen, die logischerweise dieselben wiederkehrenden Resultate zeitigen. Manch einer reitet wiederum auf ganz bestimmten Erwartungen und Prinzipien herum, die vermeintlich erfüllt werden müssen, und begrenzt damit extrem die Vielfalt möglicher Erfahrungen. Vielleicht glauben wir, dass wir nur unter bestimmten Bedingungen gewisse Dinge tun könnten, alles andere scheint uns zu wenig. Und so vertagen wir Dinge, die wir vielleicht sehr gerne tun möchten, möglicherweise auf den St. Nimmerleinstag. Tatsächlich baut sich vielleicht ein anderer weitaus geringere Bedingungshürden auf und tut es einfach. Die Bedingungen, die wir uns selbst setzen, zeitigen indes ganz bestimmte Resultate! Das ist tatsächlich wie bei einer Software. Wenn diese und jene Bedingung erfüllt ist, dann führt das Programm genau eine ganz bestimmte Aktion aus – oder eben nicht. Das Bedingungsgefängnis torpediert jedenfalls die offene und wertfreie Achtsamkeit und behindert vielfach unsere persönliche Entfaltung. Und je enger wir unsere Rahmen und damit unsere Spielräume setzen, desto weniger finden wir Lösungen, weil Kreativität und Lösungen nur in der Offenheit gedeihen. Für Lösungen müssen wir uns lösen.
‘Wenn …, dann’
All die Wenn-dann-Bedingungen und Um-zu-Absichten haben im Übrigen ihre ganz spezielle Note. Da definieren wir, dass wir glücklich sein werden, wenn wir dieses oder jenes erhalten oder erreichen. Wenn wir erst dieses Auto haben, wenn wir den ganz bestimmten Partner haben, wenn wir diese eine Stelle haben, wenn wir soundsoviel Vermögen erarbeitet haben … ja, genau dann werden wir glücklich sein. Das also ist dann unser Begriff von Glück, abhängig von einer Bedingung. Ist uns auch nur im Entferntesten klar, was wir da tun? Wissen wir wirklich, was unsere Bedingungen, die wir definieren bedeuten? Wenn ich beispielsweise definiere, dass ich bei einem bestimmten Maß an finanziellen Mitteln oder mit jener Stelle oder jenem Fahrzeug glücklich sein werde, dann heißt das zweierlei: Ohne das, also in der derzeitigen Situation, bin ich – zumindest eher – unglücklich. Ich muss per Definition damit einfach unglücklich sein. Mein Glück verlagere ich dann auf einen ganz bestimmten Moment in einer vermeintlichen Zukunft. Die Fixierung auf den Erhalt des Angestrebten begrenzt das Glück zudem vornehmlich auf den Moment des Erhaltens! Und danach? Nun, das Erhaltene könnte seinen Reiz verlieren, so, wie das oft geschieht. Dann machen wir halt eine neue Bedingung auf, definieren, wie und wann wir zukünftig vorhaben wieder glücklich zu sein.
‘Um … zu’
Mit den Dingen, die wir tun, „um zu“ verhält es sich ähnlich. Etwas tun, um etwas anderes zu erhalten oder zu erreichen, degradiert das, was wir tun, wertet es ab. Das Tun „um zu“ besagt, dass wir in unserer Wahrnehmung nicht auf einer richtigen und zufriedenstellenden Stufe sind, nicht im richtigen Moment. Etwas ist hier vermeintlich falsch, wir müssen woanders hingelangen. Vor allem aber besagt die „um zu“-Bedingtheit, dass wir das Angestrebte nicht haben oder nicht sind, es also nicht verkörpern. Die Erfahrung vieler Menschen ist denn auch, dass sie gerade das, was sie am meisten haben möchten, nie erhalten. Das ist wie bei manchen Menschen auf Partnersuche. Sie sind so sehr von ihrer Bedürftigkeit und ihrem Mangel beherrscht und unterstreichen damit dauernd, dass sie sich allein fühlen und gänzlich jenseits einer Partnerschaft sind. Und so erscheinen sie für andere auch nicht beziehungsfähig. Die immense zielfixierte Haltung „um zu“ verharrt in einem Werden-Modus. Und dadurch soll dann irgendwann der Seins-Modus eintreten? Wir können Sein nicht werden!
Die Gesetze der Bedingungshölle
Das Leben an sich ist so, wie es ist. Es schert sich nicht um die Bedingungen, die wir für unser Leben kreieren. Es fühlt sich für uns nur harmonisch an, wenn es uns gelingt mit dem Leben in Einklang zu kommen, wenn wir uns an- oder einpassen können. Bedingungen, die wir an unsere Lebenserfahrungen stellen, erzeugen eine Menge Reibung und Konflikte, sprich Disharmonie. Falsch kreierte Bedingungen können das Leben im Übrigen zur Hölle machen. Wie oft habe ich Menschen getroffen, die unglücklich waren und darunter litten keinen Partner zu haben? Oft habe ich davon auch gelesen. Der besagte Umstand ist vielmals ein gutes Beispiel für falsch kreierte Bedingungen. Dahinter steht nämlich zumeist der Glaube, dass „jeder“ natürlicherweise und normalerweise eine Partnerschaft hat, ja haben muss. Und statt die falsche Bedingung, den Irrglauben zu erkennen und die Freiheit wieder zu erlangen, leiden dann viele Menschen. Menschen erzählen auch Geschichten darüber, wie schlecht es ihnen im Leben ergangen ist. Manch einer verbittert. Alle Welt ist dann oft schlecht. Mir liegt fern, das Leid und den Schmerz von Menschen herabzuwürdigen. Schwierige Erfahrungen sind schwierig und können sehr schmerzen. Und doch hat das Ausmaß des Schmerzes etwas zu tun mit dem Maßstab, mit dem wir unsere Lebensumstönde messen. Wer durch sein Leid verbittert, kann den Schmerz aus meiner Sicht nicht loslassen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er ihn nie wirklich gefühlt hat, sondern davor wegläuft und dagegen ankämpft. Und damit wird der Schmerz als noch viel schlimmer, als er schon ist, definiert und erfahren. So wird man Leid und Schmerz nicht los, im Gegenteil. Was nicht sein kann, das nicht sein darf? Das Nicht-Loslassen und Bekämpfen ist ein Festhalten! Wir können nur von Dingen ablassen, wenn wir ihnen zugestehen, dass es sie gibt, statt ihnen die Existenzberechtigung zu bestreiten. Akzeptieren, dass es so ist und all dem keine besondere Bedeutung geben. So geht Loslassen. Die Bedingung, dass es etwas nicht geben darf, facht also nur das Höllenfeuer unseres Leids an. Und was gibt es nicht alles im Leben …
Die Mahnung des Milgram-Experiments
Ein letztes Beispiel noch für die fatalen Konsequenzen unserer Wahrnehmungsbrillen und damit von Bedingungen an die wir allzu leichtfertig glauben: Das Milgram-Experiment. Viele kennen es. Menschen haben sich in dieser Studie dazu verleiten lassen, andere Menschen mit Stromstößen zu bestrafen, wenn diese bei einer Aufgabe einen Fehler gemacht hatten. Die bestrafenden „Lehrer“ haben einer vermeintlichen Autorität gehorcht, die diese Handlung im Namen der Wissenschaft von ihnen verlangte, obwohl sie wussten, dass viele der vermeintlich verabreichten Stromstöße über einer Schwelle lagen, über der ein Mensch körperlichen Schaden nimmt. Zum Glück waren die Stromstöße nicht real und der Bestrafte nur ein Schauspieler. Aber wir können an diesem Beispiel erahnen, wie extrem die Konsequenzen sein können, wenn scheinbare Bedingungen nicht hinterfragt werden.
Der mächtige Schleier
Diese ganzen hypnotisch wirkenden Bedingungen und ihre möglichen fatalen Konsequenzen vor Augen, muss man sich wahrlich fragen, wo überhaupt ein Ausweg ist. Dieser Schleier, der über uns liegt und oft die Wirklichkeit verhüllt, wirkt so mächtig, schier unüberwindlich. Ja, das Ausmaß an Verblendung, das uns heimsuchen kann, ist erschreckend. Doch auch dieses Bild ist ja nur ein geistiges Konstrukt und gewissermaßen ein recht einseitiges Schreckensszenario. Man kann dieses Bild auch etwas weicher zeichnen. Nicht alle Bedingungen oder Regeln sind wirklich schädlich für uns. Nicht alles beschränkt uns in beträchtlichem Maß in unserer Freiheit. Regeln und Normen sind auch wichtig für das gesellschaftliche Zusammenleben, für das soziale Miteinander. Es sind Übereinkünfte, die einen Nutzen haben und ein sicheres Terrain für alle schaffen können, auch wenn manche Regeln durchaus fragwürdig erscheinen mögen.
Zur Besinnung kommen
Für uns persönlich und aus Sicht der Achtsamkeit erscheint es angeraten, mit dem eigenen Kopf zu denken, immer wieder um Objektivität zu ringen. Es ist gut, immer wieder Realitätschecks zu machen. Innehalten und sich besinnen. Ist es wirklich so? Muss ich das so sehen? Würde es jeder so sehen? … Die vermeintliche Realität hinterfragen. Und wenn wir können und es schadlos möglich ist, dann lassen wir doch die Bewertungsbrille gänzlich weg. Wenn es nicht nötig ist zu bewerten, dann können wir es auch lassen. Nur selten droht uns doch wirklich Gefahr, in der wir per Bewertung die Lage auf Basis unserer vergangenen Erfahrungen einschätzen müssen. Und wenn wir mal Konzepte brauchen, bestimmte Bedingungen berücksichtigen müssen, dann müssen wir ihnen ja nicht eine übergroße Bedeutung beimessen und sie ständig vor uns hertragen wie der Pfarrer die Monstranz. Nur so viel Bedeutung beilegen wie gerade nötig und loslassen, wenn wir all das nicht mehr brauchen.
Sein statt Werden
Es ist lehrreich, sich immer wieder wertfrei zurück zu begeben in den gegenwärtigen Moment. Dorthin, wo die Musik wirklich spielt, wo wirklich die ganze Lebendigkeit ist und die Zeit still steht. In dieser Stille ist Freiheit und Weite. In dieser Stille ist das Leben ein Wunder. Die Fesseln der Bedingungen und eines vermeintlichen Karmas, das sich entlang der Bedingungen auf der Zeitschiene entfaltet, all das verflüchtigt sich dort. Und so lehrt denn beispielsweise auch die Bhagavadgita, dass die Befreiung von Karma erlangt wird, wenn man sich bei seinen Handlungen nicht an die Früchte des Handelns bindet. Kein „um zu“, keine Bedingungen. Handeln um der Handlung selbst willen. Sein statt Werden.
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