Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Achtsamkeit und Geduld: Akzeptierendes Warten?
Geduld gilt in Zusammenhang mit Achtsamkeit als eine Eigenschaft, die kultiviert werden soll. Sie gehört nach Jon Kabat-Zinn zu den Säulen der Achtsamkeit. Ohne Frage ist Geduld eine Tugend, die in der Achtsamkeitspraxis oft vonnöten ist. Ich selbst bin ein ziemlich geduldiger Mensch, aber gerade das hat mich gelehrt, dass Geduld keine Tugend ist, die generell angezeigt ist. Wenn Geduld als vermeintlich achtsame Tugend pauschal eingefordert wird, schrillen bei mir die Alarmglocken. Kann für Achtsamkeit, die wertfreie Präsenz im Moment, tatsächlich Geduld als allgemeine Verhaltensregel ausgerufen werden? Akzeptierendes Warten?
Achtsamkeit und Geduld? Passt das?
Geduld empfinde ich im Zusammenhang mit Achtsamkeit als ein ziemlich schwieriges Thema. Gerade aufgrund meiner eigenen Erfahrung scheint es mir wichtig, einen etwas differenzierteren Blick auf die Geduld als achtsame Tugend zu werfen. Geduld bezeichne die Fähigkeit, zu warten, so Wikipedia. Mir scheint, es sind zwei Qualitäten, die bei der so definierten Geduld eine Rolle spielen: Eine zeitliche Anforderung, nämlich auf etwas zu warten, sowie die Qualität des Erdulden-Könnens, also Akzeptanz. Akzeptanz ist untrennbar mit Achtsamkeit verbunden. Akzeptanz ist schlicht Realismus. Ein Moment und die Situation darin sind schon so, wie sie eben sind. Das zu ignorieren und abzulehnen ist irreal. Akzeptanz ist im Kern das Eingeständnis, dass es nun mal so ist, wie es ist. Aber sollen wir wirklich auf etwas warten? Das bedeutet doch, sich in diesem Moment auf etwas in einer möglichen Zukunft auszurichten. Nein, so sind wir nicht mehr im Moment! Kann das achtsam sein? Geduld als ein akzeptierendes Warten entspricht in meinen Augen nie der Achtsamkeitspraxis. Bei Achtsamkeit geht es immer nur um den Inhalt und die Wirklichkeit des jetzigen Moments jenseits von Vorstellungen.
Alles hat seine Zeit
Das Thema Geduld berührt Inhalte aus meinem Beitrag „Alles hat seine Zeit“. Darin geht es um eine Qualität der Zeit und um das Erfassen dieser Zeitqualität. Innehalten, einen Realitäts-Check machen. Was ist gerade dran? Was ist wirklich schon reif und steht an? Wo geht es für mich nach meinem Empfinden jetzt lang? Das sind Fragen, die sich uns aus dem Moment heraus stellen. Was, wenn für mich ansteht, klar eine Position zu beziehen, die in eine andere Richtung führt als dahin, wohin die Entwicklung gerade zu tendieren scheint? Nein, das wäre kein „Dagegen“ oder fehlende Akzeptanz. Man kann ja ohne weiteres den Status Quo als gegeben anerkennen und trotzdem einen eigenen Weg in eine andere Richtung nehmen. Aus dem jeweiligen Moment heraus geht es darum, dem Raum zu geben, was wirklich da ist. Was schon (!) da ist. Kann es insofern im Sinne der Achtsamkeit sein, die eigenen gegenwärtig dominanten Impulse, die dran sind, hintan zu stellen und darauf zu warten, dass sich zu deren Verwirklichung irgendwann eine Tür öffnet? Kann also Geduld in diesem Zusammenhang angebracht sein? Nein, man kann einfach keine Geduld einfordern, wenn es 5 vor 12 oder schon nach 12 ist und man einfach mal Position beziehen muss. Dann muss man vielleicht endlich einmal einstehen für das, was für einen selbst wichtig ist. Geduld? Cave! Wenn die Zeit reif ist, etwas Bestimmtes zu tun, dann ist Geduld nicht angebracht. Man muss dann nicht auf die nächste Gelegenheit warten, selbst wenn vermeintliche Hindernisse im Weg stehen mögen.
Eine achtsame Geduld? Wie?
Freilich ist eine Art achtsame Geduld vielfach angezeigt und eine weitestgehend hilfreiche Haltung. Aber dann geht es eben nicht um eine Geduld, die auf etwas wartet, sondern schlicht um eine Achtsamkeit, die die Zeitqualität erfassen kann. Wissen und akzeptieren, wo ich stehe und wo ich nicht stehe. Diese achtsame Form der Geduld ist nur eine einsichtige Akzeptanz. Sie akzeptiert die augenblickliche Wirklichkeit und wartet auf nichts, auf gar nichts. Dazu brauchen wir die Fähigkeit zur Innenschau, wir brauchen Einsicht und Übung, um erkennen zu können, wie die Dinge wirklich liegen. Was ist nur Wunsch und gleichsam ein gieriges Haben-Wollen und was ist tatsächlich schon innerlich reif? Es braucht ein gewisses Maß an Weisheit, um zu erkennen, welches Verhalten in einem bestimmten Moment tatsächlich ansteht. Das ist keine Frage nach der besten und erfolgversprechenden Taktik zur Wunscherfüllung. Oh nein, kein Taktieren! Achtsamkeit als ein Erkennen der Wirklichkeit offenbart die Zeitqualität des Moments. Wissen um die Bedingungen einer Situation, Wissen um die Struktur der handelnden Mitmenschen und last but not least, Wissen um die eigenen Impulse. Was ist die Wirklichkeit des jetzigen Moments? Auf etwas zu warten, wenn die Zeitqualität eigentlich eine Aktivität fordert, ist Passivität. Es ist falsch verstandene Geduld. Es ist gewiss nicht die leichteste Übung, zu erfassen, ob gerade Geduld angebracht ist oder ob die Zeitqualität eine bestimmte Aktivität verlangt. Je mehr wir allerdings in einem natürlichen Fluss des Lebens sind, desto weniger stellt sich die Frage, was gerade ansteht. Was wir Geduld nennen mögen, geschieht dann automatisch, oder es erfolgt unmittelbar eine bestimmte Handlung.
„Geduld ist eine Tugend“
Man mag als guter, sozialverträglicher Mensch erscheinen, wenn man immer Geduld zeigt. Man kann dafür aber auch als „nützlicher Idiot“ belächelt werden. Ich muss nicht zwanghaft Situationen erdulden, die mich eher belasten, weil sie mich zu Handlungen nötigen, die mir gar nicht entsprechen. Ja, man darf solche Situationen auch einfach verlassen! Warum nicht? Nochmals: Die Frage ist, was wirklich da ist und dran ist. Was verlangt die Wirklichkeit und was nicht?
Ungeduld
Ungeduld ist in meinen Augen selten ein adäquates Verhalten, meist auch dann nicht, wenn Geduld nicht angezeigt ist. Ungeduld entspringt oft einem Getriebensein aufgrund bestimmter Vorstellungen oder sie entspringt egoistischen Motiven. Solche Motive können einen überzogenen Durchsetzungswillen forcieren, der der Wirklichkeit der augenblicklichen Zeitqualität nicht entspricht. Die Dinge sind, wie sie sind. Sie müssen nicht so sein, wie wir es uns vorstellen. Aus unserer Konditionierung heraus kann uns Ungeduld erfassen. Das ist der Fakt, den es dann wahrzunehmen gilt. Und in diesem Moment der Einsicht, können wir Ungeduld auch wieder loslassen, ohne uns dazu zu zwingen.
Kompass Achtsamkeit
Um im Sinne der Zeitqualität geduldig die Füße still zu halten oder um wenn nötig zu agieren, benötigen wir den Kompass der Achtsamkeit. Achtsamkeit entwickelt in uns die Fähigkeit, das Unwirkliche vom Wirklichen zu unterscheiden. Was ist Vorstellung? Was ist Wirklichkeit? Wenn wir das erkennen können, dann wissen wir jeweils schon, was zu tun ist. Wir müssen keine Entscheidungen treffen. In uns gibt es schon eine Befindlichkeit, eine Richtung und einen Trend, der einfach nur erkannt werden will. Achtsamkeit ist der Kompass, der uns in die Wirklichkeit des Moments bringt und der uns zu uns selbst bringt.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!