Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Ich. Mein. Achtsamkeit
Kennen Sie das? Menschen, die ein „Problem“ haben oder vielleicht ein bestimmtes Leid oder einen Schmerz, sind sehr fokussiert darauf. Das fokussierte Unangenehme wird oft sehr bestimmend, manchmal bestimmt es quasi alles und das ganze Leben dreht sich darum. Vor allem sprechen Menschen dann gerne von „mein Problem“, „mein Schmerz“, „mein Schicksal“, „meine Krankheit“, „mein Muster“ (i. e. Verhaltensmuster), usw.. Starke Identifikationen finden statt, gleichsam auch eine Inbesitznahme, denn es wird von „mein“ gesprochen. Dieses Verhalten ist im Sinne der Achtsamkeit nicht hilfreich. In der Achtsamkeitspraxis vermeiden wir es, wenn möglich, von „mein Schmerz“ und Ähnlichem zu sprechen. Warum? Möchte man diese Frage beantworten, tun sich viele Aspekte auf. Vom besitznehmenden „mein“ aus eröffnet sich uns die ganze Dimension unserer Ich-Identifikation …
Registrierendes, urteilsfreies Gewahrsein
„Da ist ein Schmerz“. „Es fühlt sich so an: …“ „Da ist diese angenehme Körperempfindung.“ Solcherart ist die registrierende Wahrnehmung in einer Achtsamkeitsmeditation. Wir versuchen uns zu öffnen für alle Erfahrungen, die im gegenwärtigen Moment da sind. Wir wollen all dem mit wachem Interesse und einer gewissen Neugier begegnen. Und letztlich brauchen wir noch nicht mal Begrifflichkeiten für das, was wir im Einzelnen erfahren. Aber eines tun wir nach Möglichkeit nicht: Die Erfahrung oder Einzelheiten davon in Besitz nehmen. Eine mir bekannte schmerzhafte Körperempfindung ist nicht „mein Schmerz“. Eher ist es wie etwas Neues, das uns begegnet und das wir nun gerade kennenlernen. Wir lassen es da sein, wo es ja schon ist und wir lassen es auch wieder gehen, wenn es irgendwie wieder verschwindet. Das ganze Leben ist ja ein Kommen und Gehen, ein Auftauchen und Verschwinden. Und deshalb spiegelt die Achtsamkeit genau diese Tatsache als Haltung wieder: Es ist natürlich, dass etwas auftaucht und auch dass etwas wieder geht. Wir halten es nicht fest!
Festhalten ist keine gute Idee
„Mein Schmerz“ ist eine Inbesitznahme. Es ist Festhalten. Es ist eine Fokussierung und es ist eine Identifikation. Ich selbst werde ganz zu „meinem“ Schmerz. Was wir festhalten, geht nicht den natürlichen Gang alles Vergänglichen, es bleibt uns erst mal erhalten. Ich habe in meinem Beitrag „Dagegen ist dafür“ schon einmal aufgezeigt, dass auch der Widerstand und das Bekämpfen nichts anderes als Festhalten ist. Wir geben manchmal einfach keine Ruhe und sind absolut fokussiert auf etwas, das wir als unliebsam bewertet haben. Wir können dann einfach nicht davon ablassen, es nicht loslassen. Was wir fokussieren und festhalten wird dadurch nicht kleiner, es wird in seiner Bedeutung für uns sogar größer. Es wird schlimmer. Und im Grunde werden wir selbst dabei immer kleiner. Unsere Welt, wir selbst, sind nur noch „mein Schmerz“, „mein Problem“, „meine Krankheit“, etc. etc.. Dieses Verhalten scheint also keine besonders gute Idee zu sein …
Offen und gewahr frei sein
Es ist vorteilhafter, wenn wir den Fokus offener halten können. Wir sind doch viel mehr als nur dieser eine Schmerz, dieses eine Problem oder diese Krankheit! Das geweitete, gelöste Gewahrsein bringt eine gewisse Distanz. Tatsächlich befreit es uns aus einer Gefangenschaft. Es befreit uns aus dem Gefesseltsein an „mein“ … . Dieser Schritt vom fokussierten In-Besitz-Genommenen hin zur einfachen gelösten beobachtenden Wahrnehmung ist eine entscheidende Veränderung. Ein Stück Freiheit wird wiedergewonnen und unser Leben kann wieder in einen natürlichen Fluss kommen.
Thoreau, Mönche, Minimalismus
Beim Thema Besitz oder Inbesitznahme geht es tatsächlich um weitaus mehr als man nach dem Vorigen glauben mag. Henry David Thoreau, ein amerikanischer Lehrer und späterer Schriftsteller und Philosoph, ist im 19. Jahrhundert für etwa 2 Jahre in eine Blockhütte am Waldensee gezogen. Er lebte dort sehr spartanisch, besaß nicht viel mehr als ein Bett und baute vor der Hütte Bohnen an. Eine seiner Einsichten dieser Auszeit war, dass uns Besitz bindet. Es ist schön ein Haus zu besitzen, aber der Hausbesitz führt dazu, dass wir uns um Pflege (z. B. Putzen) und Instandhaltung sorgen müssen. So besitzt das Haus dann uns. Wir sind fortan noch mehr als vielleicht schon zuvor gebunden. Aus diesem einfachen Beispiel wird leicht verständlich, warum Mönche in den verschiedenen spirituellen Traditionen in der Regel weitestgehend auf Besitz verzichten. Sie bewahren sich ihr ganzes Potential und Ihre Energie für ihren spirituellen Weg und für Gott. Vielfach leben Mönche oder auch Priester im Zöllibat. Auch das hat denselben Hintergrund. Keinem Partner verpflichtet, bleiben sie frei und ungebunden. Ich bin weit davon entfernt, mich zum Fürsprecher des Zöllibats machen zu wollen, ich möchte hier nur verständlich machen, worum es dabei geht. Ein anderes Beispiel: Heute gibt es eine Bewegung, die sich „Minimalismus“ nennt. Menschen steigen aus dem üblichen Konsumverhalten aus und begrenzen ihren Besitz auf das Nötigste. Sie streben nach Freiheit von Zwängen, wollen sich auf das konzentrieren, was ihnen wichtig ist. Sie wollen mit ihrem Minimalsismus, wie es Wikipedia beschreibt, „ein selbstbestimmteres, erfüllteres Leben … führen.“
Geistige Inbesitznahme. Das Kamel und das Nadelöhr
Besitz oder Inbesitznahme haben freilich nicht nur eine materielle Dimension. „Mein Schmerz“, „mein Problem“, „meine Krankheit“ usw. sind geistige Identifizierungen. Die zentrale Identifikation unseres Lebens ist unser „Ich“. Erinnern Sie sich an die TV-Werbung „Mein Haus“, „mein Boot“, „mein Pferd“ … ? Wir haben eine Definition davon, wer wir vermeintlich sind. Wir haben eine Geschichte darüber, was vermeintlich unsere Eigenschaften sind, was wir qua Beruf, Vermögen und Status sind. Oh ja, der größte Besitzer von allen ist unser „Ego“ oder „Ich“. Es besitzt unser Leben oder vielmehr das, was es dafür hält. Unser „Ich“ ist reich an geistigem Besitz. Vermutlich hat Jesus Christus genau das gemeint als er sagte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ (Bibel, Neues Testament. In: Markus 10,25 / Lukas 18,25 / Matthäus 19,24), In Wirklichkeit sind unsere vielen Ich-Definitionen eine begrenzende Festlegung. Sie sind eine Fixierung, die ignoriert, dass wir uns mit der Zeit ja durchaus verändern. Selbst unsere Haltungen verändern sich mit den Erfahrungen. Eine starre Festlegung als „Ich“ stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. Tatsächlich ist unsere Ich-Definition mit allem anderen in steter Veränderung. Ist das überhaupt noch eine Definition? Insgeheim scheinen wir dennoch zumeist an eine Art fixes „Ich“ zu glauben. Es würde zu weit führen, hier noch viel weiter in die Tiefe zu gehen.
Achtsamkeit und das „Ich“
In der Achtsamkeitspraxis wollen wir die Ichhaftigkeit nicht stärken. Achtsamkeit baut nicht weiter an dieser Struktur, die uns vermeintlich ein Selbstverständnis, Selbstbewusstsein, Selbstwert, Stärke und Sicherheit verleihen soll. Halten wir uns einmal vor Augen, wie es ist, wenn wir einfach nur wahrnehmend im gegenwärtigen Moment verweilen. Dazu braucht es kein „Ich“, die Ich-Vorstellung stört dabei nur. Auch im Flow-Zustand ist ein „Ich“ irrelevant. Alles geht uns dabei leicht von der Hand, hocheffizient, ganz ohne das Bewusstsein von einem „Ich“. Tatsächlich ist es so, dass wir in dem Moment, wo das „Ich“ versucht, etwas kontrolliert und nach seinem Plan durchzuführen, aus diesem Zustand herausfallen. Wir verkrampfen dann und die Effizienz ist dahin, oft auch unsere authentische Ausstrahlung. Für den Zustand des Flows ist die Ichhaftigkeit schädlich. Das „Ich“ ist ein Kontrollfreak mit tausend Vorstellungen und Plänen. Im Gegensatz zur Anstrengungslosigkeit im Flow-Zustand ist das „Ich“ immer am Kämpfen und sich anstrengen. Besonders kämpferisch wird das „Ich“, wenn es darum geht, seine Ich-Definition zu verteidigen. Wird mein definiertes Selbstverständnis angegriffen, fühle „Ich“ mich geradezu in meiner Existenz bedroht. Und so wird für die eigene Ich-Definition gerne leidenschaftlich gekämpft. Oder es wird ohnmächtig daran gelitten, dass da jemand diese Definition infrage gestellt hat. Wir sind dann verletzt.
Die Verletzlichkeit der Ichhaftigkeit überwinden
Verletzungen aber sind nur möglich, wenn etwas da ist, das verletzt werden kann! Das ist für mich keine Theorie. Es hat sich für mich durch die eigene Erfahrung erwiesen. Wenn wir unsere Energie nicht mehr in den Bau und den Erhalt dessen stecken, was wir zu sein glauben, sind irgendwann keine Ich-Identifikationen mehr da, die vermeintlich verteidigt werden müssten. Verletzungen sind so nicht möglich. Wenn wir gleichermaßen keine Energie stecken in ein Bild, wie unsere Welt zu sein hat, dann haben wir keine Motivation mit unserem Schicksal zu hadern. Was, wenn wir Erfahrungen wertfrei begegnen, wenn sie kommen und gehen dürfen, so wie es der natürliche Lauf ist? Was, wenn wir Erfahrungen nicht in Besitz nehmen? Ein Beispiel: Wir erleben einen Erfolg und genießen einfach nur die Freude daran, ohne uns selbst zu beweihräuchern, wie toll wir sind, weil wir diesen Erfolg für uns eingefahren haben. Was, wenn wir weder Wohl noch Wehe in Besitz nehmen?
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