Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Mystik, Mutter der Achtsamkeit
Achtsamkeit ist heute wissenschaftlich gut erforscht und es sind demzufolge viele positive Wirkungen einer achtsamen Haltung belegt worden. Aber woher kommt Achtsamkeit? Wer hat das, wenn man so sagen will, erfunden? Achtsamkeit entstammt der buddhistischen Lehre, jedenfalls in erster Linie. Die Wurzeln jener Achtsamkeit, die sich namentlich durch das Wirken von Jon Kabat-Zinn inzwischen als Trend verbreitet hat, liegen im Buddhismus. Jon Kabat-Zinn hat seine Botschaft der Achtsamkeit allerdings von allem Religiösen befreit, obwohl er selbst Buddhist ist. Kabat-Zinn hat zudem deutlich gemacht, dass Achtsamkeit etwas Universelles ist. Ich kann dem nur voll und ganz zustimmen. Für die Prinzipien der Achtsamkeit braucht es keine Religion. Tatsächlich sind es aber Mystiker mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund gewesen, die diese Prinzipien aufgezeigt und in die Welt gebracht haben.
Berührungsängste
Eine ketzerische Frage: Sind nicht all die Mystiker, die in ihren Aussagen die Prinzipien der Achtsamkeit weiter gegeben haben, durch die Wissenschaft bestätigt worden? Meine Antwort ist ein klares „Ja“. Viele werden an dieser Stelle zucken und womöglich mit Unbehagen nach Gegenargumenten suchen. Auch manch einer, der Achtsamkeit in einem MBSR-Kurs kennen gelernt hat und der von Achtsamkeit überzeugt ist, empfindet meine Aussage gewiss als provokant und verspürt vermutlich einen inneren Widerstand dagegen. Der Begriff Mystik scheint größere Berührungsängste mit distanzierenden Reaktionen auszulösen. Mystik wird auch heute noch tabuisiert und oftmals der Esoterik zugerechnet. Viele wollen schlicht nichts damit zu tun haben.
Die Säkularisierung der Achtsamkeit
Jon Kabat-Zinn, Mediziner und Molekularbiologe, hat von Anfang an großen Wert gelegt auf eine möglichst umfangreiche Forschung zu Achtsamkeit und ihm war bewusst, dass es gerade damals in den 70-er Jahren sehr ratsam war, die ganzen religiösen oder spirituellen Zusammenhänge außen vor zu lassen. Doch Kabat-Zinn weiß freilich von den Wurzeln der Achtsamkeit. Er weiß, dass Buddha Achtsamkeit deshalb gelehrt hat, weil er Achtsamkeit infolge seiner Erleuchtung und seiner Einsicht als etwas Wesentliches erkannt hat. Und Jon Kabat-Zinn weiß ebenso, dass die inhaltlichen Prinzipien der Achtsamkeit auch in anderen Religionen oder Lehren von großen Weisheitslehrern gelehrt worden sind. Aus dem Bereich des Advaita Vedanta hat er selbst z. B. Ramana Maharshi und Nisargadatta Maharaj angeführt. Ich erwähne dies hier freilich auch, weil die beiden Genannten für mich die Ikonen jener Lehre sind, der ich mich persönlich verbunden fühle. Mystiker aller Zeiten haben immer wieder von der Einheit von allem gesprochen. Advaita, die Lehre von Non-Dualismus und Einheit betont dies in besonderer Weise. Da ich selbst in meinem Leben geprägt worden bin durch außerordentliche mystische Erfahrungen von Einheit, ist mir diese Lehre sehr nahe.
Universelle Prinzipien der Achtsamkeit
Als grundlegende Prinzipien der Achtsamkeit würde ich dies bezeichnen: Es gibt nur die Gegenwart. Alles Bewerten oder Beurteilen ist Interpretation und verhüllt die Wirklichkeit – das, wie es wirklich ist – mit einem Schleier. Wenn wir also unsere Konzepte, Erwartungen und Vorstellungen hinterfragen können, ist viel gewonnen. Vieles was zuvor schmerzhaft war, relativiert sich dann plötzlich. Diese Sichtweise findet sich, wie gesagt, nicht nur im Buddhismus. Natürlich sind dies grundsätzliche Aussagen über Achtsamkeit, die bedeuten, dass es im Prinzip so ist. Mir ist aber bewusst, dass davon abgesehen selbst Bewertungen und Konzepte in manchen Zusammenhängen hilfreich sind und manchmal ihre Berechtigung haben.
Was ist Mystik?
Was versteht man eigentlich unter Mystik, die ich hier schon in der Überschrift als Mutter der Achtsamkeit bezeichne? Laut Wikipedia bezeichnet der Ausdruck „Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche Erfahrung.“ Und weiter: „Im alltäglichen Sprachgebrauch sowie in populärer Literatur versteht man unter Mystik meist spirituelle Erlebnisse und Aussagen, die als solche wissenschaftlich nicht objektivierbar sind („echte“ mystische Erfahrung). “ Liest man verschiedene Definitionen zu Mystik taucht immer wieder auch das Adjektiv „geheimnisvoll“ auf. Es liegt nahe, dass viele Menschen Mystik als etwas nebulöses Geheimnisumwittertes ansehen, nicht als Erfahrung einer tieferen Wirklichkeit. Und so wird „mystisch“ gerne als Synonym für geheimnisvoll verwandt. Mystik wird infolgedessen oft eher in den Bereich des Aberglaubens und der Esoterik verortet. Tatsächlich fühlen sich mystische Erfahrungen jedoch sehr real an, wirklicher als die vermeintliche Wirklichkeit. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.
Mystiker
Mystik hat Tiefe, die man spürt. Viele Aussagen von Mystikern berühren. Man spürt das tiefgründig Wahre in den Worten. Die Religionsgründer Buddha, Jesus und Mohammed waren letztlich Mystiker. Ja, auch Jesus Christus. Um nicht ins Uferlose abzudriften, gedenke ich das hier aber nicht zu erläutern. Im Christentum sind über die Jahrhunderte eine ganze Reihe von Mystikern hervorgetreten. Um einige Namen zu nennen: Franz von Assisi, Hildegard von Bingen, Meister Eckart, Thomas von Aquin, Mechthild von Magdeburg, Niklaus von Flüe, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz. Aussagen und Gedichte des persischen Mystikers Rumi (Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī) werden gerne im Zusammenhang mit Achtsamkeit zitiert, weil darin etwas mitschwingt, was das Verständnis von Achtsamkeit vertiefen kann. Doch kaum einer nimmt dabei wahr, dass der vielzitierte Rumi ein Mystiker ist.
Mystik herunter brechen zu gewöhnlicher Erfahrung des gegenwärtigen Moments
Der Kern der Mystik ist die Erfahrung von Einheit oder Verbundenheit. Wenn wir urteilen oder bewerten, trennen wir. Wir spalten die eine ganzheitliche Erfahrung auf, grenzen ab und erschaffen Dualität: Das eine und das andere außerhalb davon. Achtsamkeit folgt hier der mystischen Einheitserfahrung und unterlässt, wenn möglich, das trennende Bewerten. Achtsamkeit lässt die Seinserfahrung ganz. Alles, was da ist, gibt es im Sein, bzw. in unserem Leben. Das ist die Wirklichkeit, die so sein darf, weil sie eben so ist. Es braucht indes keine echte mystische Erfahrung um die Verbundenheit (Einheit) von allem ein Stück weit zu erspüren. Wir können uns einfach auf Achtsamkeit einlassen: Im gegenwärtigen Moment sein, nicht bewerten. Ja, man kann die mystische Erfahrung gewissermaßen auf das einfache wertfreie Gegenwärtigsein im Moment herunterbrechen. Wer in dieser Art von Momenterfahrung verweilt, spürt keine Trennung und keine „Probleme“. In diesem Moment ist Verbundenheit da, einfach deshalb, weil wir nicht durch Bewerten trennen. Und dort, jenseits des Bewertens, ist Frieden und Gelassenheit da. An dieser Stelle muss ich dann wohl auch ergänzen, dass die Definition seiner selbst mit einem Konzept der eigenen Ichhaftigkeit ebenfalls eine Trennung oder Aufspaltung der Einheit ist und Verbundenheit nicht begünstigt. Überspitzt formuliert: Ich gegen den Rest der Welt ist jenseits von Verbundenheit. Ein Dasein ohne eine Ich-Betonung bleibt dagegen eher in der Ganzheit des Seins.
Die vermeintliche Realität üblicher Alltagserfahrungen
Übrigens: Ist nicht gerade die übliche Wahrnehmung unserer Alltagserfahrungen in Wirklichkeit in vielem ziemlich irreal? Wir stecken mit unserer Aufmerksamkeit oft irgendwo in einer nebulösen Vergangenheit oder Zukunft. Real ist aber nur die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sind immer nur Vorstellungen. Ebenso sind wir oft in Konzepten verhaftet durch die wir die Welt sehen. Filter und Brillen, die nicht die Wirklichkeit abbilden.
Die Mystik hinter dem achtsamen Mitgefühl
Dass Achtsamkeit wiederum auch dem Mitgefühl einen besonderen Stellenwert beimisst, kann ebenfalls mit der mystischen Einheitserfahrung in Zusammenhang gebracht werden. In einer solchen Erfahrung fühlt sich alles Wahrgenommene wie Glieder des eigenen Körpers an, denen man wohlwollend und liebevoll verbunden ist. Übrigens ist dieser Zustand unglaublich angstfrei. Vor was sollte man auch Angst haben, wenn man das alles selbst ist?
Achtsamkeit und der Stellenwert der Mystik
Mystik ist keine Esoterik. Mystische Erfahrungen fühlen sich sehr real an. Sie kommen unmittelbar und umfassend über uns und sind kein Konzept, keine Interpretation. Die mystische Erfahrung ist keine Deutung wie es die Esoterik so liebt. Sie ist Offenbarung, unmittelbare Erkenntnis. Achtsamkeit als Lehre wiederum ist gemäß ihres Ursprungs aus dem abgeleitet, was Buddha oder auch andere infolge Ihrer mystischen Einsicht als wesentlich erkannt und über den Wandel ihrer Lebenserfahrung direkt wahrgenommen haben. Die Mystik ist deshalb die Mutter der Achtsamkeit. Wohlgemerkt, niemand, der Achtsamkeit praktiziert muss sich mit Mystik befassen oder gar mystische Erfahrungen anstreben. Achtsamkeit muss grundsätzlich nirgendwo hin. In diesem Beitrag ging es darum, einmal auch den Stellenwert der oft tabuisierten und geradezu verpönten Mystik aufzuzeigen. Mich berührt Mystik sehr persönlich und ich möchte sie gerne auch ein kleines bisschen entmystifizieren.
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