Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Veränderungen: Der „Nelson-Code“
Wenn wir etwas verändern wollen, kann es eigentlich nicht schnell genug gehen. Bei einfachen Dingen, die bis dahin noch keine Gewohnheiten sind, bringen wir das, denke ich, auch leicht zuwege. Wenn es allerdings um eingefahrene Gewohnheiten geht oder um tiefe Verhaltensmuster, dann schaffen wir Veränderung nicht von jetzt auf gleich. Eine vermeintliche Ausnahme: Der seltene Aha-Effekt, die Einsicht, die uns das Ruder plötzlich herumreißen lässt. Wenn ich mich erinnere, fällt mir persönlich aber spontan gerade mal ein einziges, derartiges Erlebnis ein. Und ich bin mir nicht sicher, ob der „Aha-Effekt“ nicht eine Illusion ist … . Der Normalfall einer Veränderung ist ein schrittweiser Prozess. In Anlehnung an ein Gedicht, in dem Portia Nelson diesen Vorgang auf wunderbare Weise beschreibt, nenne ich dieses Hineinwachsen in die Veränderung hier den „Nelson-Code“. Sich diesen Prozess bewusst zu machen, kann sehr hilfreich und entlastend sein.
Veränderung durch Aha-Effekte
Damals, als ich aufhörte zu rauchen, hatte ich den einzigen mir erinnerlichen großen Aha-Effekt, der alles veränderte. Ich erkannte, dass die Ursprungsmotivation meines Rauchens sich völlig überlebt hatte. Rauchen erschien mir in dieser Sicht als völlig sinnfrei und absurd. Ich konnte es schlagartig aufgeben und es fiel mir leicht! Dann und wann habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie man eine solch plötzliche tiefe Einsicht bewirken könnte und eine unmittelbare Verhaltensänderung erzielen könnte. Ergebnis: Ich weiß es bis heute nicht wirklich. Vielmehr beschleicht mich inzwischen eher die Ahnung, dass der Aha-Effekt eine Illusion ist. Wie kam ich denn damals darauf, mich überhaupt zu fragen, warum ich rauchte?
Leben ist ständige Veränderung
Eigentlich entbehrt es ja nicht einer gewissen Ironie, dass wir vieles so sehen, als ändere sich nichts. In Wirklichkeit ändert sich doch ständig alles! Das Leben selbst ist ständige Veränderung. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Allein unser Körper tauscht ständig seine Zellen aus. Manche in schnellen zeitlichen Zyklen, manche in Zyklen über mehrere Jahre. Und dabei geschieht die körperliche Alterung. Auch unser „Ich“, als das wir uns definieren, ist in Wandlung. Unsere Lebenserfahrungen hinterlassen in uns fortwährend ihre Spuren. Manches macht uns „weicher“ und lebensweise, manches führt zu geistig-psychischen Verhärtungen. Standpunkte und vermeintliche Wahrheiten verändern sich mit uns. Klar, wir nehmen Veränderungen manchmal nur wenig wahr, weil wir im Kern vielleicht immer wieder denselben Reinfall erleben, den wir eigentlich gerne mal beheben möchten. Dennoch kann rein gar nichts diesem Charakteristikum des Seins, nämlich der Veränderung, entkommen. Wie sehr glauben wir oft genug unser Heil im Festhalten von Umständen und Personen finden zu können! Wir suchen Sicherheit. Die größte Sicherheit ist jedoch, dass sich alles verändern wird und wir nichts wirklich festhalten können. Es wäre eigentlich ziemlich gut, dem Rechnung zu tragen und uns in unserer Haltung zum Leben diesen Fakten anzupassen. Mit dem Fluß des Lebens mitfließen …
Die normale, schrittweise Veränderung
Achtsamkeit. Ohne Erwartungen, ohne Schubladendenken und Konzept offen sein für den gegenwärtigen Moment und seine Wendungen und Wandlungen. Achtsamkeit trägt der steten Veränderung Rechnung. Doch alte Gewohnheiten versuchen uns immer wieder aus dem Moment und aus der Achtsamkeit fortzureißen. Gedanken führen uns auf einen Holzweg und in Geschichten, Geschichten, Geschichten … Achtsame Momente und Rückfälle, ein Hin und Her. Aber das ist eben der Normalfall. Gewohnheiten legen sich nicht so einfach ab. Langer Rede kurzer Sinn: Wir fallen gerne mal auf die Vorstellung herein, Veränderungen würden abrupt, quasi von schwarz zu weiß stattfinden. Es ist wertvoll und entlastend, sich hin und wieder bewusst zu machen, dass sich Veränderungen im Normalfall nur Schritt(chen) für Schritt(chen) vollziehen. Die Sprünge und großen Ahas sind vielleicht sogar nur Illusion, weil wir ihre Vorgeschichte, ihr Kulminieren zum Aha-Effekt hin, gar nicht bemerkt haben. Auch ein Vulkan bricht nicht plötzlich aus. Vielleicht können wir loslassen von der Vorstellung, dass sich plötzliche, radikale Veränderungen einstellen sollten. Ein Baum wächst als kleiner Stamm, der Äste austreibt und dann erst Blätter und Früchte. Der kleine Setzling poppt nicht von jetzt auf gleich als großer Baum voller Blätter und Früchte auf.
Das Wesen der Veränderungen
Selbstvorwürfe und Hadern, weil wir das Ruder nicht schneller herumreißen können, sind unangebracht. Wir können den nächsten Schritt gehen. Beamen ginge schneller, aber Beamen ist nicht die Wirklichkeit. Das Wesen der Veränderungen beschreibt der „Nelson-Code“:
Autobiografie in 5 kurzen Kapiteln
Kapitel eins
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehweg
Ich falle hinein. Ich bin verloren … ich bin hilflos.
Es ist nicht mein Fehler…
Ich brauche eine Ewigkeit, um einen Ausweg zu finden.Kapitel zwei
Ich gehe die gleiche Straße entlang
Da ist ein tiefes Loch im Gehweg.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, dass ich am selben Ort bin.
Aber es ist nicht mein Fehler.
Es braucht immer noch lange Zeit um herauszukommen.Kapitel drei
Ich gehe die gleiche Straße entlang
Da ist ein tiefes Loch im Gehweg
Ich sehe, dass es da ist.
Ich falle dennoch wieder hinein… es ist eine Gewohnheit.
Meine Augen sind offen
ich weiß wo ich bin.
Es ist mein Fehler.
Ich komme sofort heraus.Kapitel vier
Ich gehe die gleiche Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehweg.
Ich gehe darum herum.Kapitel fünf
Ich gehe eine andere Straße entlang.
„Autobiography in five short chapters“ von Portia Nelson.
US-amerikanische Sängerin, Liedermacherin, Schauspielerin, Schriftstellerin.
Aus: „There’s a Hole in My Sidewalk. The Romance of Self-Discovery“
Übersetzung: Rigobert Hofmann
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