Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Full catastrophe living: Alles auf Anfang …
„Full catastrophe living“ (Die ganze Katastrophe leben) ist der Titel von Jon Kabat-Zinns Grundlagenwerk, in dem er ausführlich die Inhalte und Grundlagen der Achtsamkeitspraxis und des MBSR-Kurses beschreibt. Im Deutschen heißt das Buch „Gesund durch Meditation“. Während der englischsprachige Titel die grundlegende Haltung der Achtsamkeit gegenüber dem Leben widerspiegelt wird der deutsche Titel dem leider nicht gerecht. Wenn wir uns den ganzen Katastrophen unseres Lebens aussetzen, begegnen wir auch Momenten des Scheiterns. Es sind sehr schmerzliche Erfahrungen. Mit etwas Abstand können wir sie aber auch als eine Befreiung begreifen.
Scherben, Emotionen und Verwirrung
Im Scheitern zerbricht etwas. Vielleicht liegt ein Projekt, in das wir viel Energie gesteckt haben vor uns in Scherben. Vielleicht scheitern wir, eine Rolle auszufüllen, mit der wir uns sehr stark identifiziert haben. Wer wir zu sein glaubten, zerbricht. Scheitern ist wahrlich eine niederschmetternde Erfahrung. Trauer mag auftauchen, Angst, Wut. Ohnmacht mag auftauchen und eine Art von Verwirrung, weil wir erst mal vor einem Nichts stehen. Da geht die Orientierung schon mal verloren und wir müssen uns erst wieder finden und uns neu verorten. Was geschieht mit uns in einer solchen Situation? Wenn wir achtsam dafür sind, entdecken wir vielleicht auch eine Chance.
Energieverlust
Angesichts des Scheiterns mag sich unser Verstand ziellos verrennen, sich drehen im Kreis und sich hin und her wenden. Kann sein, dass wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Möglicherweise haben wir das Gefühl, dass unsere Energie uns regelrecht verlässt. Sie fließt ab, ist nicht mehr greifbar. Und wenn wir dafür achtsam sind, bemerken wir vielleicht, dass sich eigentlich eine Art Entspannung vollzieht.
Der Raum nach der Entladung
Scheitern. Was passiert da? Ist es nicht so, dass wir zuvor lange Zeit viel Anstrengung und Energie in unser Projekt oder in unser Rollenverständnis gesteckt haben? Das ist wie eine Verdichtung, eine Anhäufung von Energie. Im Scheitern erfolgt die Entladung. Es wird für uns spürbar, wie wir Energie verlieren, wie sie sich in alle Richtungen zerstreut. Entspannung! Wir hatten uns krampfhaft in unseren Plan, in unser Weltbild verstiegen. Unser Konzept zerbricht und die ganze Anspannung, die darin verwoben war, fließt ab. Tatsächlich entsteht dabei Raum und Offenheit. Das ist der Boden für Neues. Alles ist auf Anfang und im Grunde eröffnet sich uns damit plötzlich auch eine neue Freiheit. Wenn wir mit unserem Scheitern kämpfen und es nicht akzeptieren wollen, dann sehen wir diese Chance im Scheitern erst mal nicht.
Loslassen statt Festhalten
Mir fallen auf Anhieb eine ganze Reihe von Menschen ein, für die sich ihr Leben radikal und auf eine erstaunliche Weise geändert hat, gerade weil sie gescheitert sind. Scheitern zwingt zum Loslassen. Ein Loslassen in neue Möglichkeiten! Scheitern löst Fixierungen. Es nimmt uns die Zügel aus der Hand und manchmal fließt das Leben plötzlich ganz von allein in eine andere Richtung. Nicht ausgeschlossen, dass wir uns dann ohne irgendeine Anstrengung wiederfinden in einer ganz neuen Welt und in Umständen, die für uns stimmiger sind als zuvor.
Gescheitert? Alles auf Anfang …
Wohlgemerkt, Scheitern ist eine schmerzliche Erfahrung, das möchte ich nicht beschönigen und ich möchte hier auch keine ‚Lust am Scheitern‘ predigen. Aber vielleicht können wir es mit etwas Abstand zumindest als etwas ansehen, das im Leben passieren kann und in dem auch eine Chance für einen lohnenden Neuanfang liegen kann. Es ist nicht unnormal und unnatürlich! Es kann passieren, es ist eine der Unwägbarkeiten eines Lebens dessen ganze Katastrophe (Amerikaner neigen vielleicht manchmal etwas zu Übertreibungen) wir in der Achtsamkeitspraxis zu leben versuchen. Scheitern? Na und? Alles auf Anfang!
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
(Hermann Hesse in „Stufen“, aus: Das Glasperlenspiel)
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