Lebenspraxis | Ein Einsichts- und Lebenserfahrungs-Blog zu Achtsamkeit
Das Bewerten. Stolperstein der Achtsamkeitspraxis.
Achtsamkeit ist „… in bestimmter Weise aufmerksam sein: absichtsvoll, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen.“ So definiert Jon Kabat-Zinn Achtsamkeit. Viele Menschen fühlen sich von Achtsamkeit angesprochen, bei weitem nicht jeder davon besucht einen MBSR-Kurs (Basis-Trainings-Kurs in Achtsamkeit nach J. Kabat-Zinn) oder hat z. B. einen buddhistischen Hintergrund. Jedenfalls findet sich manch einer, der den Begriff der Achtsamkeit für sich allzu sehr auf das Im-Augenblick-Sein verkürzt und das „ohne zu urteilen“ vernachlässigt oder gar ganz übersieht. Nein, Achtsamkeit ist nicht einfach nur das Bemerken und bewusste Genießen schöner Augenblicke. Die vermeintlich unschönen Augenblicke sind auch deshalb so unschön, weil wir zuweilen eine übermäßige Neigung haben alles und jedes zu bewerten. Der Weg zu Gelassenheit und auch zu einem freundlicheren Umgang mit uns selbst führt über das zunehmende Ablegen dieser Gewohnheit des Bewertens. Doch – wie schaffen wir das?
Schwierigkeiten, übermäßiges Bewerten abzulegen
Erst vor wenigen Tagen traf ich mich mit einem Freund und irgendwie kamen wir auf das „Bewerten“ zu sprechen. Mir wurde in diesem Gespräch erstmals wirklich bewusst, dass viele Menschen vielleicht große Schwierigkeiten haben, von einem übermäßigen Bewerten abzulassen und gar nicht wissen, wie sie das bewerkstelligen können. Und so habe ich mich gefragt, wie das denn überhaupt geht, dieses vom Bewerten ablassen. Was ist hilfreich? Und wie mache ich selbst das eigentlich? Nebenbei bemerkt: Auch ich verfalle in einigen Fällen in den Bewertungsmodus. Und ja, die Emotionen kochen dann hoch und manchmal schimpfe ich auch. Und wisst Ihr was? Ich erlaube mir das, denn es ist dann schon so weit gekommen und irgendwie brauchen die Emotionen dann ein Ventil. Die Luft muss raus. Und so will ich manchmal gar nicht gleich wieder aufhören zu schimpfen, obwohl ich schon gleich bemerkt habe, dass ich bewerte und dass sich meine Befindlichkeiten damit nur hochschaukeln. Manchmal gönne ich mir das einfach. Es ist schon da, es zu unterdrücken wäre keine gute Lösung (vgl. mein Beitrag „Dagegen ist dafür“.).
Bemerken! Frankls Raum zwischen Reiz und Reaktion.
Wie komme ich in einer solchen Situation wieder runter und stoppe das Bewerten? Der Schlüssel ist das „Bemerken“. Wenn wir bemerken, dass wir bewerten, dann sind wir schon aus dem Automatismus ausgestiegen. Dann ist es möglich zu entscheiden, ob wir so weitermachen möchten oder nicht. Wie Viktor Frankl sagte: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Wenn wir unser Bewerten bemerken, gewinnen wir die Freiheit, unser weiteres Verhalten bewusst zu wählen. Und schon stellt sich eine weitere Frage: Wie kann ich überhaupt bemerken, dass ich gerade am Bewerten bin? Die Antwort ist: Wir brauchen die Absicht, das Bewerten bemerken zu wollen. Ja, man muss sich das vornehmen! Und weil wir gerade dabei sind: Ebenso muss man sich vornehmen, die Gewohnheit des Bewertens ablegen zu wollen.
Was ist meine Intention? Möchte ich das Bewerten überhaupt ablegen?
Und aufs Neue taucht an dieser Stelle eine Frage auf: Wie entwickle ich denn die echte Absicht, das Bewerten ablegen zu wollen? Vielleicht spüre ich ja, dass ich manchmal allzu gerne bewerte. Ich bin ja vermeintlich im Recht. Ich bin vielleicht genervt und das muss irgendwie raus. Ja, es kann tatsächlich sein, dass man mit Bewerten auch mal Dampf ablassen muss. Manchmal hat es scheinbar eine gewisse Berechtigung und hat im Zusammenhang mit unseren Emotionen geradezu eine Funktion. Und so erhebt sich eine sehr grundsätzliche Frage: Warum soll ich denn überhaupt das Bewerten ablegen? Was ist der Sinn dahinter?
Erfahrung, Wissen, Überzeugung
Die Frage ist wirklich entscheidend. Man muss doch erst einmal verstehen, warum in der Achtsamkeitspraxis das Nicht-Urteilen zu einem Prinzip erhoben wird! Nur wenn ich die Überzeugung gewonnen habe, dass das Nicht-Urteilen für mich hilfreich ist, kann ich auch meinen Hang zum Bewerten wirklich infrage stellen und die feste Absicht entwickeln, davon abzulassen. An diesem Punkt geht es um ein Begreifen und fürs Begreifen brauchen wir eine handfeste Erfahrung. Na ja, ich brauche das jedenfalls. Man kann mir ja viel erzählen … . Wenn es nicht meiner Erfahrung entspricht, warum sollte ich es glauben? Wir brauchen im Grunde zwei Erfahrungen, um die Crux des Bewertens zu begreifen. Wie ist es, wenn ich bewerte? Wie ist es, wenn ich nicht bewerte? Hier ist das Beobachten von Erfahrungen gefragt.
Die Erfahrung des Bewertens
Nehmen wir an, wir stehen vor einer Prüfung. Vielleicht fühlen wir uns unsicher und haben etwas Angst. Was, wenn wir daran denken, dass wir vor einem Jahr schon eine ähnliche Prüfung hatten, die nicht gut ausging? Und bei dieser Prüfung jetzt fallen regelmäßig 10 bis 15 Prozent durch! Überhaupt, der Tag fing schon schlecht an, ich hätte fast verschlafen und mein Müsli war heute irgendwie auch nicht gut. Schlechtes Zeichen. Und was, wenn gerade das abgeprüft wird, bei dem ich mich am wenigsten sicher fühle? Langsam werde ich unruhig. Ich habe kein gutes Gefühl. Die Prüfung letztes Jahr. Die hohe Versagerquote. Heute ist nicht mein Tag und ich habe da eine erhebliche Wissenslücke. Das kann nicht gut gehen! Usw., usw.. Manchmal bewerten Menschen, was das Zeug hält und erzählen sich eine Geschichte voller Interpretationen und Bewertungen. Kann das wirklich hilfreich sein? Und wie fühlt man sich dabei? Jeder kann hier gewiss eigene Erfahrungen beisteuern und jeder weiß, welche Rückwirkungen auf uns selbst ein solcher Bewertungsmodus hat.
Die Erfahrung des Nicht-Bewertens
Am leichtesten haben wir vielleicht in der Natur Zugang zur Erfahrung des Nicht-Bewertens. Still dasitzen, schauen, hören. Das Gesehene und Hörbare auf uns wirken lassen. Nicht Geschichten aus der Vergangenheit nachhängen und sich keine Geschichte über die Zukunft ausmalen. Wenn wir etwas wahrnehmen, brauchen wir dem noch nicht mal einen Namen geben. Einfach hier sein, mit all dem sein, was auftaucht, es kommen und gehen lassen. Was wir wahrnehmen, darf jetzt einfach mal so sein, wie es aus sich heraus ist. Mit einer Bewertung, und sei es nur nach „gut“ und „schlecht“, würden wir etwas anderes daraus machen, weil wir Bedeutung zuweisen, uns eine bestimmte Brille aufsetzen. In einem solchen achtsamen Moment, kann es da irgendein Problem geben? Nein, kann es nicht. Wir kreieren kein Problem, denn zum Problematisieren braucht es Bewertungen! Die ganze Situation ist einfach nur neutral und wir sind gelassen. Tatsächlich kann es sogar passieren, dass in einem solchen Moment in uns ein Glücksgefühl aufsteigt …, aber das ist eine andere Geschichte. Nicht bewerten trennt nicht. Jedes Bewerten trennt auf in eine von uns bestimmte Qualität und ihr Gegenteil. Das Gegenteil entsteht in dem Trennungsprozess gleich mit. Nicht-Bewerten ist ungeteilte Verbundenheit. Ja, und natürlich fühlt es sich ziemlich komfortabel an. Einfach ausprobieren!
Wie kann ich übermäßiges Bewerten ablegen?
Grundsätzlich kommt bei jedem Menschen unwillkürlich ein fast unmerkliches Bewerten auf. Es ist natürlich, dass wir etwas als angenehm oder unangenehm empfinden. Das ist wie „heiß“ und „kalt“. Die Frage ist halt, ob es hilfreich für uns ist, daran einen Rattenschwanz von vielen zusätzlichen Bewertungen zu knüpfen. Um es nun auf den Punkt zu bringen:
- Beobachten, wie es ist, wenn wir bewerten. Ist es hilfreich? Fühle ich mich gut dabei?
- Begib‘ Dich in die Erfahrung des Nicht-Bewertens. Halte immer mal wieder inne, ohne zu bewerten. Ist es hilfreich? Fühle ich mich gut dabei?
- Entscheide. Auf Basis Deiner Erfahrung kannst Du Dir nun vornehmen, das Bewerten mehr und mehr unterlassen zu wollen.
- Wenn Du die echte Absicht hast, das Bewerten öfter zu unterlassen, dann hast Du schon automatisch ein Interesse daran, es zu bemerken, wenn Du in den Bewertungsmodus verfällst. Nimm Dir also vor, das Bewerten zu bemerken, wenn es auftaucht.
- Du hast bemerkt, dass Du gerade bewertest? Du weißt aus Deiner Erfahrung, dass es wenig hilfreich ist und Du hast Dich entschieden, dass Du es ablegen möchtest. Du hast die Freiheit, mit dem Bewerten hier und jetzt einfach nicht fortzufahren.
Wie immer in der Achtsamkeitspraxis brauchen wir für dieses Rezept eine weitere unerlässliche Zutat: Nachsicht. Wir brauchen Geduld mit uns. Wenn wir uns vorgenommen haben, das Bewerten zu unterlassen, dann brauchen wir Nachsicht und Geduld mit uns selbst. Man kann nicht von einem Modus direkt in den anderen umschalten. Es wird vorkommen, dass wir hin und wieder in den Bewertungsmodus verfallen. Das ist natürlich! Selbstvorwürfe sind nicht hilfreich. Einfach weitermachen. Das Bewerten wird weniger werden.
Lieber Helmut,
eine gute Frage! Zunächst einmal ist die Unterscheidung nach angenehm und unangenehm schon Bewerten, ja. Das geschieht natürlicherweise und ist sozusagen harmlos. Auch dem Genießen steht nichts entgegen, solange es nicht um einen zwanghaften Vorsatz geht, unbedingt genießen zu müssen. Solange etwas natürlicherweise geschieht und wir nichts mit einem gewissen Nachdruck forcieren, ist alles im Lot. Wenn Genießen natürlicherweise grad dran ist, wunderbar. Schwierig ist es eben, wenn dahinter das Haben-Wollen von Genießen steht und damit einher gehend das Verdrängen von Unangenehmen. Das ist dann eben nicht mehr das Sein mit den Dingen wie sie sind.
Herzlicher Gruß,
Rigobert
Klingt gut, mit dem Nichtbewerten, vor allem wenn es unangenehm ist. Wenn’s aber angenehm ist, gilt das dann auch? Ich habe mal gehört, dass Genießen ohne Bewerten auch nicht geht. Zumindest muss ich mir bewusst sein, dass das, was ich jetzt erfahre angenehm ist. Ist das schon bewerten?
Helmut