Wenn der innere Kritiker weg ist …
– Vom inneren Kritiker zur Feier seiner selbst –
Es kehrt ein innerer Friede mit sich selbst ein, wenn wir es schaffen, sinnfreie, weil ungerechtfertigte Selbstkritik zu überwinden. Das Mobbing durch einen eigenen inneren Kritiker kennen die meisten Menschen. Zugrunde liegende Ursache und Maßstab des inneren Kritikers sind Erwartungen und Normen, die wir von uns selbst einfordern. Dieses Anforderungsprofil haben wir in der Regel nicht selbständig erfunden. Dahinter stecken überwiegend alle möglichen Erwartungen, Normen, Werte, Konzepte und Vorstellungen, die man uns anerzogen hat oder die die Umwelt von uns eingefordert hat. Da wollte uns jemand nach seinem Bild erschaffen und scherte sich nicht so sehr um das Wesen, das wir wirklich sind. Hätte man sich um unser Wesen geschert, hätten wir keinen inneren Kritiker, sondern eher etwas wie einen inneren Motivator oder Coach. Ist der innere Kritiker schließlich überwunden, finden sich dann Wertschätzung für uns selbst, Selbstmitgefühl oder Freude an uns selbst ganz automatisch ein?
Anders haben wollen statt fördern. Ein gesellschaftliches Phänomen
Dass so viele Menschen unter einem inneren Kritiker leiden, macht sehr deutlich, wie wenig in unserer Gesellschaft darauf geachtet wird, wie das einzigartige Wesen eines Menschen tatsächlich ist und wie wenig gemeinhin unser Wesen bestärkt wird. Der heutige geistige Mainstream fokussiert sich noch viel zu sehr auf eine Umformung und Umerziehung anderer Menschen. Am ärgsten ausgeprägt findet sich diese Gesinnung nach meiner Kenntnis in der deutschen Arbeitsverwaltung. Vor allem bei den Jobcentern grassiert eine politisch gewollte Missachtung und Nötigung von Menschen, die sich sowieso schon in einer leidvollen Lage befinden. Aber auch das ganz normale Arbeitsleben ist von derselben Geisteshaltung infiziert. Gestern erst habe ich z. B. einen dpa-Artikel gelesen, in dem es darum ging, dass oft die Falschen zu Führungskräften befördert werden. Meist würden die Fachleute, die sich in ihrem Metier bewiesen haben, zu Führungskräften gemacht. Doch dann zeigt sich oft, dass es an den Qualitäten einer guten Mitarbeiterführung mangelt. Und dazu gehört nun mal, seine Mitarbeiter motivieren zu können und so coachen zu können, dass ihre besten Möglichkeiten und ihr wahres Potential zum Vorschein kommen. Gemäß dem Artikel hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert. Mehr Beschäftigte als noch vor 2 Jahren geben nun an, dass Ihre Chefs sie motivieren. Die Quote derer, die nach einer Gallup-Untersuchung „Feuer und Flamme für ihren Job“ sind, liegt allerdings nur bei 15 Prozent, etwa gleichauf mit der Quote derer, die innerlich gekündigt haben (14 Prozent). Und die anderen machen dann halt Dienst nach Vorschrift … .
Selbstkritik und innerer Kritiker
Wenn ich hier die überzogene Kritik unseres inneren Kritikers adressiere, dann liegt es mir übrigens fern, in Bausch und Bogen jegliche Selbstkritik zu dämonisieren. Wenn wir uns weiterentwickeln möchten – und Entwicklung ist ein Merkmal des sich verändernden Lebens – braucht es eine gewisse Reflexion unseres Lebens und damit auch eine kritische Auseinandersetzung mit uns selbst. Es geht dann manchmal schlicht darum, was gut lief und was weniger gut lief und welche Lehren wir daraus ziehen können. Das hilft, sich weiter zu entwickeln. Als Orientierung bei unserer Entwicklung kann auch unser innerer Kompass dienen, der weiß, wer wir wirklich sind, was wir lieben und was wirklich „unser Ding“ ist. Wir sollten bei Selbstkritik allerdings den Ball in einer verständnisvollen Variante flach halten. Sich Fehler vorwerfen, Selbstvorwürfe, das ist kontraproduktiv, weil nicht hilfreich und nur eine Leid erzeugende Selbstabwertung. Obendrein ist dieses Vorwerfen von Fehlern auch in keiner Weise gerechtfertigt, denn in der Regel haben wir nicht bewusst etwas falsch gemacht, wollten eigentlich das Bestmögliche und haben es entweder nicht besser gewusst oder wegen gewisser noch unüberwindlicher Gewohnheiten nicht besser gekonnt. Darüber habe ich im Beitrag „Du bist okay“ geschrieben.
Einen inneren Kritiker zu haben, ist der Normalzustand für sehr viele Menschen. Ich habe oben schon darauf verwiesen, dass es Gründe gibt, warum sich diese „Gestalt“ entwickelt. Insofern sollten wir den inneren Kritiker auch nicht als Feind deklarieren und ihn regelrecht bekämpfen. Zudem: Alles, was wir bekämpfen, verstärkt sich eher. Auch das findet sich schon in einem Beitrag: „Dagegen ist dafür.“ Es ist freilich sehr befriedend und entlastend, wenn es gelingt, den inneren Kritiker zu überwinden. Das ist ein lohnenswertes Ziel, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Die Selbstkasteiung durch einen inneren Kritiker hat sich in meinem Leben inzwischen tatsächlich aufgelöst.
Löst sich ohne inneren Kritiker ‘alles’ in Wohlgefallen auf?
Nun möchte man gerne glauben, dass mit der Überwindung des inneren Kritikers und dem Einklang mit sich selbst automatisch auch Wohlwollen gegenüber uns selbst und ein gewisses Wohlgefühl ins eigene Leben käme. Unbewusst mag man sogar hoffen, dass sich damit das Leben insgesamt zum Besseren wendet. Meine Erfahrung ist, dass man ohne inneren Kritiker deutlich den Frieden mit sich selbst verspüren kann und man ist sich seiner selbst weitaus sicherer als zuvor. Und das ist ohne Frage sehr viel wert und eine bemerkenswerte Entwicklung. Und doch löst sich ohne den inneren Kritiker vielleicht weniger als erhofft in Wohlgefallen auf. Es scheint, als habe der überwundene innere Kritiker eine Lücke hinterlassen. Etwas fehlt, aber es sind sicherlich nicht die Selbstvorwürfe. Der innere Kritiker wird landläufig als Hemmnis für die eigene Wertschätzung und Selbstliebe angesehen. Man möchte also meinen, dass sich mit seiner Überwindung eben diese Qualitäten automatisch einstellen.
Nein, ohne inneren Kritiker gelangt man erst mal nur zu einer neutralen Haltung gegenüber sich selbst. So neutral, dass es geradezu unpersönlich sein kann. Das Gefühl für sich selbst, auch das Selbstmitgefühl, kann weiter fehlen. Eine neutrale Haltung ist nicht per se eine wertschätzende Haltung. Man kann sich freilich fragen, inwiefern es eine wertschätzende Haltung zu sich selbst braucht und ob nicht einfach eine neutrale Haltung ausreichen sollte.
Das grundlose Glück des Seins
Mir fällt dazu eine grundlegende Erfahrung mit Achtsamkeit ein. Wenn wir nicht bewerten und beispielsweise in der Natur wertfrei im gegenwärtigen Moment da sind, dann kann plötzlich ein Glücksgefühl aufkommen. Wir werden ergriffen vom Zauber der Natur, bzw. vom Zauber des Lebens, von Bewunderung. Ja, das Leben wirkt dann wie ein Wunder auf uns. Vielleicht denken wir dann ganz automatisch „Oh, ist das schön!“ oder „Oh ist das wunderbar!“ Betrachten wir das bitte als Analogie für unsere Selbstwahrnehmung. Das legt durchaus nahe, dass sich bei einem wertfreien annehmenden Bezug zu sich selbst und beim Wegfall der sinnfreien Selbstkritik automatisch ein gewisses Wohlgefühl breit machen könnte oder sollte. Genauer gesagt, wäre es wohl ein Ergriffensein vom Wunder, das ich selbst bin. Und genau das ist bei mir so nicht eingetreten.
Nach dem inneren Kritiker. Was uns weiter blockieren kann …
Ja, die Verzauberung und die Freude über das, was wir selbst sind, kann ausbleiben. Warum das? Nun, man bildet sich leicht ein, man „dürfe“ oder „solle“ sich nicht derart selbst feiern. Bescheidenheit und Demut, die dem einen oder anderen als Normen vielleicht ein bisschen zu viel eingeimpft wurden, können noch immer die Selbstwertschätzung blockieren.
Und sogar die Achtsamkeit selbst, oder besser unser „Verständnis“ von Achtsamkeit kann einer mangelnden Wertschätzung gegenüber sich selbst Vorschub leisten. Konkret meine ich hier das Verständnis vom Nicht-Bewerten. In der Achtsamkeitspraxis möchten wir nicht urteilen oder bewerten. Und dieses Prinzip des Nicht-Bewertens bezieht sich tatsächlich gleichermaßen auf das Bewerten von etwas als „schlecht“ wie auch auf das Bewerten als „gut“. Das kann unbewusst zu einer überzogenen Vorsicht führen, sich selbst ja nicht allzu wohlwollend zu „bewerten“. Und so kann man denn auch die Freude am Wunder, das man selbst ist, enorm ausbremsen.
Es ist wohl auch so, dass die Teile unseres selbstgepflegten Anforderungsprofils (Selbstbild), die den inneren Kritiker antreiben und uns abwerten, uns leichter bewusst werden können als die Teile, die uns nur nach bestimmten Normen handeln lassen ohne uns offensichtlich abzuwerten. Die Folgen des Letzteren sind weniger merklich, weil eine Selbstverletzung, anders als bei überzogener Selbstkritik, weder wahrgenommen, noch leidvoll verspürt wird. Falsche Bescheidenheit und falsche Demut, wie auch ein falsch verstandenes Nicht-Bewerten können zu einer Selbstblockade führen. Sie erlauben Selbstliebe und Lebensfreude nicht, natürlich und frei zu fließen. Es sieht dann so aus, als bräuchten wir ein neues positives Selbstbild, das die verbliebene Lücke eines destruktiven alten Selbstbilds füllt.
Selbstwertschätzung üben oder … ?
Ich glaube nicht, dass wir uns mit der Überwindung des inneren Kritikers explizit auch um eine positive Bewertung und Wertschätzung unserer selbst kümmern müssen. Geht es nicht vielmehr darum, das grundlose Glück des Seins uneingeschränkt zuzulassen? Genauso wie beim wertfreien gegenwärtig sein in der Natur, bei dem automatisch Glücksgefühle aufkommen können. Ich denke, wir sollten uns einfach nur die Erlaubnis geben für eine ambitionslose, also zweckfreie Feier des eigenen Soseins.
Der nächste Schritt ist also: Die Freude und Selbstbewunderung gegenüber der eigenen Einzigartigkeit zuzulassen. Wohlgemerkt ohne Betonung der Ichhaftigkeit. Einfach nur: „Oh ist das schön, so zu sein!“ Ich merke schon jetzt, das fühlt sich sooo gut an.
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